PRO: Herr Bonelli, wird unsere Welt immer grausamer?
Raphael M. Bonelli: Ich glaube das nicht. Wenn ich mir überlege, was wir in der Geschichte der Menschheit schon alles erlebt haben, ob im Mittelalter, im Dritten Reich oder beim Balkan-Konflikt, dann wird die Welt nicht grausamer, aber doch immer wieder grausam.
Was können wir dem entgegensetzen?
Wir sollten nach der Weisheit des Herzens schauen. Sie hat die Güte im Blick, und wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen. Dazu gehört die Fähigkeit, dankbar, gelassen und demütig zu sein, aber auch vergeben zu können. Heute leben wir oft in einer unbarmherzigen Welt. Cancel Culture führt dazu, dass andere Meinungen nicht mehr wahrgenommen oder aus der Gesellschaft entfernt werden. Wir müssen wieder herzlicher sein und uns selbst relativieren. Es gab Zeiten, da konnten die Menschen schon einmal besser mit ihrem Gegenüber diskutieren und gegensätzliche Meinungen aushalten. Das müssen wir wieder neu lernen.
Sie schreiben in Ihrem Buch: „Es gibt hochgebildete Mafiosi, korrupte Universitätsprofessoren und unmoralische Nobelpreisträger, andererseits einfache, bescheidene und ungebildete Menschen mit echter Herzensgröße.“ Was bedeutet dies für unser tägliches Zusammenleben?
Wir sollten daran denken, dass es eine Herzensbildung gibt. Das bedeutet, sein Leben nach objektiven Werten auszurichten. Sie hat nicht unbedingt etwas mit dem IQ der Menschen oder den Informationen, die er im Kopf hat, zu tun. Viele Menschen glauben, dass ein gescheiter und erfolgreicher Mensch per se auch gut ist. Aber das stimmt nicht. Ich empfehle deswegen, dass sich Menschen am Wahren, Guten und Schönen orientieren sollen. Das ist besser als ein falsches und korruptes Leben zu führen.
Wie kann ich herausfinden, wem ich vertrauen darf und wem nicht?
Auf jeden Fall sollte sich jeder seine Ratgeber genau anschauen. Stimmt das, was sie sagen, mit dem, was sie vorleben, überein. Das Leben entlarvt Menschen. Ich kenne einen Unternehmer, der Menschen immer erst einstellt, wenn sie bei ihm und seiner Frau zu Abend gegessen haben. Seine Frau sei sehr sensibel für das Auftreten von Menschen. Wenn sich dies an dem Wahren, Guten und Schönen sowie glaubwürdigen und guten Werten orientiert, ist das eine gute Basis, um dem anderen zu vertrauen. Das Wahre, Gute und Schöne ist unserem Herzen zugänglich, allerdings können diese Transzendentalen auch verdreht und pervertiert werden.
Welche Rolle spielt die Religiosität im Blick auf das Thema Weisheit des Herzens?
Die Religiosität ist eine ganz zentrale Verwirklichung dieser Selbsttranszendenz. Der Mensch erhebt sich über seinen eigenen kleinen Horizont und blickt auf etwas Höheres, das wahr, gut und schön ist. Der Blick schlechthin darauf ist die Religion. Wenn das Ganze ein Gesicht hat oder ein Du als Gegenüber, dann ist das umso stimmiger. Religion tut Menschen gut. Gläubige Menschen begehen weniger Suizid, sind selten verzweifelter oder depressiver oder verfallen einer Sucht. Sie sind mit ihrem Leben zufriedener und können besser mit Krankheiten umgehen. Ihr Leben ist klarer geordnet. Gesunde Religiosität ordnet Werte richtig ein und bringt sie nicht durcheinander.
Macht der Glaube mich also zu einem zufriedeneren Menschen?
Auf lange Sicht hilft ein tief gelebter Glaube, ein gelungenes Leben zu führen und dabei zufriedener zu sein. Meine Großmutter war eine tief religiöse Frau. Mit 46 Jahren hat sie als Mutter von sieben Kindern ihren Mann verloren. In diesem Moment war sie sicher nicht zufrieden, aber sie war mit Gott verbunden. Ich habe sie später als sehr zufrieden wahrgenommen. Glaube macht resilienter und stabiler gegen die Krisen im Leben. Viele Menschen haben ein exzessives Leben, sind aber innerlich unzufrieden. Aber ich kenne auch das genaue Gegenteil. Es gibt viele arme Menschen, die eine innere Stimmigkeit haben.
Für sinnvolle Entscheidungen ist aus Ihrer Sicht das Herz zuständig. Wann lohnt es sich, trotzdem auch auf den Bauch zu hören?
Ich plädiere dafür, auch auf den Bauch zu hören, weil er viel zu sagen hat. Das Herz ist zwar die Entscheidungsmitte des Menschen, aber die Wahrnehmung geht auch durch Bauch und Kopf. Ich rezipiere die Welt einerseits durch mein Gefühl, andererseits durch Kognition. Bauch und Kopf sind die Berater des Herzens. Ohne Berater sollte ein König keine Entscheidung treffen. Der Bauch ist gut, um ein emotionales Gesamtbild des Gegenübers zu erfassen. Aber er ist auch irrational und soll nicht die letzte Entscheidung haben, weil er durch Manipulation das Falsche wahrnimmt.
Wie können wir unser Herz trainieren, damit es seine Aufgabe richtig erfüllt?
Wir müssen erst einmal schauen, dass unser Herz nicht durch den Zeitgeist oder unseren Alltag gefangen, sondern frei ist. Das gelingt durch Ruhe, Beschaulichkeit und Kontemplation. Konkret heißt das, auch einmal das Handy zur Seite zu legen und über Dinge nachzudenken. Wer nachdenkt und sein Herz öffnet für das Wahre, wird sich für die richtigen Werte und das Gewissen entscheiden und gegen die Lüge. In der Bibel sind das die Menschen „guten Willens“, die ihr Herz öffnen für das Wahre. Am Ende jeden Tages kann ich überlegen, was ich gut gemacht habe und wo ich noch besser werden will. Diese Gewohnheiten werden dann zu Tugenden und gehen in Fleisch und Blut über. Ich kann das Gute tun, ohne viel zu überlegen. Das wusste schon Aristoteles.
Raphael M. Bonelli
Raphael M. Bonelli, Jahrgang 1968, ist ein österreichischer Neurowissenschaftler und Psychiater. In seinem neuesten Buch „Die Weisheit des Herzens – Wie wir werden, was wir sein wollen“ schreibt er, wie das Herz zum Wegweiser für das Leben werden kann.
Sie schreiben, dass Krisen eine wichtige Funktion haben. Warum braucht es diese Krisen?
Es gibt wenige Menschen, die ohne Krisen, dem Guten begegnen können. Dem Großteil gelingt das nicht. Es macht das Leben mühsam. In solchen Situationen beginnt der Mensch nachzudenken, weil er aus dem Alltagstrott herausgerissen wird. Wir Menschen sind aber fähig, Ziele neu zu definieren und umzukehren. Ich nenne das Herzens-Wende. Ich wende mich vom Bösen ab und stelle mich – ausgelöst durch eine Krise – in den Dienst der Gemeinschaft.
Ein Satz Ihres Buches lautet „Nenn mir Deine Werte und ich sag Dir, wer Du wirst!“ Können Sie das einmal ganz praktisch erläutern?
Einem Menschen, der sich für gute Werte und sein Gewissen entscheidet, merkt man das an. Werte werden mit der Zeit zu Tugenden. Je kompletter und besser sortiert ein Werte-Katalog ist, desto gelungener wird sein Leben werden. Wenn die Werte eine Schlagseite bekommen, merkt man das sofort.
Wie schwer fällt es ihnen persönlich, selbstlos zu sein, wenn sie es mit gleichgültigen Menschen oder solchen zu tun haben, die sie schwer verletzt haben?
Das sind natürlich unterschiedliche Dimensionen. Auch wenn meine Biografie einige Anlässe gegeben hätte, bin ich mir da keiner schweren Verletzung bewusst. Ich bin nicht der Typ, der sich in etwas hineinmanövriert und sich rund um ein Trauma dreht. Mit Gleichgültigkeit habe ich kein Problem. Ich weiß mich geliebt von meiner Familie und von Gott. Das sorgt für Stabilität. Wenn Menschen an mir schuldig geworden sind, muss ich sie nicht ständig sehen. Ich vergesse das, was vorgefallen ist, aber ich suche nicht deren Nähe.
Als Wissenschaftler und Psychiater folgen ihnen über 300.000 Abonnenten auf den Sozialen Medien. Was ist die wichtigste Botschaft, die sie diesen Menschen mitgeben wollen?
Ich möchte gerne zeigen, wie ein glückliches Leben gelingen kann. Als Psychiater helfe ich jeden Tag Menschen wieder in die Spur zu kommen und wieder glücklich zu werden. Ich versuche dabei auf die Weisheit des Herzens zu hören und ich orientiere mich am Wahren, Guten und Schönen. Die Menschen brauchen etwas Höheres und etwas, dem sie sich hingeben können. Wer nur um seine eigene Befriedigung kreist, wird dadurch nicht glücklich. Sie landen dann beim Psychiater, der ihnen eine höhere Vision schenkt.
Vielen Dank für das Gespräch.