PRO: Sie fordern mit Ihrem Buch „Raus aus dem Ego-Kapitalismus“. Was ist denn dieser Ego-Kapitalismus?
Patrick Kaczmarczyk: Ich definiere den Ego-Kapitalismus als das rücksichtslose Verfolgen von kurzfristigen Eigeninteressen. Dabei kann es in einer Katastrophe enden, wenn alle dasselbe versuchen. Der Ökonom John Maynard Keynes sprach vom „Trugschluss der Verallgemeinerung“, also der Einsicht, dass das große Ganze mehr ist als die Summe seiner Einzelteile und entsprechend andere Gesetzmäßigkeiten gelten. Wenn jemand zum Beispiel spart, ist das für diese Person vielleicht gut. Aber wenn alle Menschen versuchen, weniger auszugeben, als sie einnehmen, geht die Wirtschaft den Bach herunter. Diese fundamentalen Abhängigkeiten werden in unserer Wirtschaftspolitik viel zu wenig berücksichtigt. Wir machen Politik auf Basis der Annahme, dass alle Akteure voneinander unabhängig agieren: „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ und so weiter, man verfolgt Eigeninteressen. Deutschland kann sich demnach durch starke Exporte aus einer Wirtschaftskrise kämpfen, doch die weitreichenden Folgen, die dieses Modell im Rest der Welt verursacht, interessieren uns nicht.
Konkurrenz belebt das Geschäft. Und Leistungsdenken ist doch nichts Verwerfliches, sondern eine wichtige Grundlage des Wohlstandes westlicher Gesellschaften.
Natürlich. Aber es war sicher nicht allein der Egoismus, der das angetrieben hat. Im Prozess der Industrialisierung war es oft die sichtbare Hand des Staates, die eingegriffen und gelenkt hat. Den Wohlstand für die Massen haben wir erst dadurch geschaffen, dass sich die Arbeiterklasse in Gewerkschaften organisieren konnte. Bis zum Zweiten Weltkrieg herrschten unglaublich hohe Ungleichheiten, eine absolute Misere. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man gemerkt, welche Selbstzerstörung der Kapitalismus entfalten kann, wenn er nicht vernünftig gemanagt wird: Sei es im internationalen Umgang mit der Finanzkrise, die die ganze Welt in den wirtschaftlichen Abgrund getrieben hat und in Deutschland den Nährboden für die Nazis bereitete. Das Denken, dem die Organisation der Wirtschaft untergeordnet wurde, hieß „nie wieder Krieg.“ Um radikalen Populisten und Demagogen keinen Raum zur Entfaltung zu geben, hat die Bundesrepublik auf ein soziales Modell gesetzt. Die breite Masse der Bevölkerung sollte am wirtschaftlichen Fortschritt teilhaben. Letztendlich funktionierte der Ansatz sehr gut für die Wirtschaft und war keineswegs deren Untergang, wie es heute viele Liberale und Konservative ausmalen.
Sie stellen in Ihrem Buch fest, dass die Menschen unzufrieden sind – und machen das auch am Umfrageerfolg der AfD fest. Allerdings ist die AfD doch gerade die Partei, die auf „Freiheit statt Verbote“ und eher weniger statt mehr Staat setzt. Wie passt das zusammen?
Letztendlich sind Märkte immer Institutionen und Institutionen werden politisch gestaltet. Wir sollten wegkommen von dem Dualismus von „Markt versus Staat“. Die letzten Jahrzehnte waren keine Ära der De-Regulierung, sondern der Re-Regulierung – ganz im Sinne einiger Weniger. Der AfD spielt das heute in die Hände, denn sie profitieren von den Ängsten der Menschen und der Unzufriedenheit mit den Eliten. Wir stehen eben vor gewaltigen Umbrüchen und viele Menschen haben Angst, ihren Wohlstand zu verlieren. Jahrzehntelang konnten weite Teile ohnehin nur knapp über die Runden gekommen und haben vom technologischen Fortschritt nicht profitiert. Bis tief in die Mitte hinein empfinden viele Menschen es nun als ungerecht, dass die Inflation sie deutlich härter trifft als die oberen Einkommensbezieher, die sich weiter die Taschen vollmachen. Das nutzt die AfD geschickt aus, obwohl ihre Vorschläge die Lage ihrer Wähler noch deutlich verschlechtern würde. Politik beruht aber primär nicht auf rationalen Entscheidungen, sondern auf Emotionen.
Sie plädieren in Ihrem Buch für die katholische Soziallehre als Heilmittel gegen den Ego-Kapitalismus und zitierten dabei auch viele Bibelstellen. Ist die christliche Lehre ein Gegenprogramm zu unserem Wirtschaftssystem? Manche würden eher sagen: Unser Wirtschaftssystem beruht doch sogar auf christlichen Wurzeln.
Meine Kritik zielt nicht auf den Kapitalismus an sich, sondern auf die Art des gegenwärtigen Kapitalismus. Ich will nicht den Kapitalismus abschaffen, weil auch die Alternative gar nicht klar wäre. Wir sollten aber die Vorteile dieses Systems so nutzen, dass wirklich alle davon profitieren. In den vergangenen 40 Jahren hat der Neoliberalismus geherrscht, das war Politik für die obersten paar Prozent. Dagegen ist die Soziallehre eindeutig ein Gegenmodell. „Eigenverantwortung“ und ähnliche Schlagworte werden immer wieder von konservativen Liberalen ins Spiel gebracht. Die christliche Soziallehre betont die Verantwortung für den Nächsten, für die Umwelt, füreinander als Gesellschaft. Sie nimmt eine Vogelperspektive ein, sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Ich finde die Soziallehre einfach genial.
Erklären Sie uns bitte kurz und knapp die christliche Soziallehre.
Die schönste Definition, die ich gehört habe, stammt vom französischen Jesuiten Jean-Yves Calvez: Er spricht von „sozialen Implikationen, die sich aus dem christlichen Glauben ergeben“. Der Ankerpunkt findet sich schon in der Schöpfungsgeschichte. Gott verleiht dem Menschen durch seine Ebenbildlichkeit seine Würde. Die Soziallehre überwindet den klassischen Gegensatz zwischen Liberalismus und Individualismus auf der einen Seite und Kollektivismus auf der anderen Seite. Beispiel Eigentum: Natürlich kann Eigentum als verlängerter Arm menschlicher Freiheit unser Wohlbefinden steigern. Aber die Soziallehre verabsolutiert das nicht. Sonst kämen wir genau dort hin, was Jesus als „Dienst am Mammon“ bezeichnen würde. Die Soziallehre sagt deshalb ganz klar, dass Eigentum ein Mittel zum Zweck zur Überwindung der Armut ist, für die breite Masse der Menschen. Zum anderen hat Gott uns allen die Früchte der Erde gegeben. Selbst wenn Menschen nicht direkt an den Produktionsprozessen beteiligt sind, steht ihnen trotzdem zu, von dieser Akkumulation zu profitieren. Ein anderer Bereich ist das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital. Auch dort sagt die Soziallehre deutlich: Die Politik muss auf der Seite der Arbeit stehen. Kapital haben wir geerbt, wir haben nichts dazu beigetragen, es ist immer nur ein Instrument zur Produktion. Mit dem Faktor Arbeit hingegen ist die unveräußerliche Würde des Menschen verbunden.
Ist unsere Wirtschaft nicht auch von der Soziallehre geprägt?
Die Politik hat das genaue Gegenteil dessen gemacht, was die Soziallehre sagt. Tarifbindung und Gewerkschaften wurden geschwächt, die Lohnquote ist gesunken, die Ungleichheiten sind explodiert, die Arbeitslosigkeit ist strukturell höher und vieles mehr. Nach dem christlichen Menschenbild ist der Mensch geboren zur Arbeit wie der Vogel zum Fluge. Wir haben bestimmte Potenziale von Gott bekommen und sollten sie auch verwirklichen. Deswegen wäre beispielsweise Vollbeschäftigung ein Pflichtziel für jede Gesellschaft, die gerecht sein will. Das ist ein fundamentaler Bruch mit dem Neoliberalismus, nach dem ja ein gewisses Maß an Arbeitslosigkeit sogar erwünscht ist, um die Inflationsraten in Schach zu halten und die Arbeiter in den Fabriken und Büros zu disziplinieren. Die christliche Soziallehre ist ein Kompass, der unsere Gesellschaft wirklich nach vorne bringen könnte. Und der die enorme Polarisierung, die wir in den letzten Jahrzehnten geschaffen haben, auch heilen könnte.
Sie zitieren in Ihrem Buch Deuteronomium 14,22: „Du sollst Jahr für Jahr den Zehnten abgeben von allem Ertrag deiner Saat, der aus dem Acker kommt.“ Ein christlicher Neoliberaler könnte dazu sagen: „Den Armen auf diese Weise zu helfen, ist ein gutes und christliches Prinzip – aber dazu sollte niemand gezwungen werden.“
Im Hintergrund steht die Frage, wie stark Staat und Kirche getrennt sein sollten. Ich bin da bei Josef Ratzinger: Wo Staat und Religion miteinander verschmelzen, da tritt die Religion immer in den Dienst der Macht. Ich glaube, dass man Distanz wahren muss. Trotzdem können die Prinzipien der Bibel uns Orientierung geben. Manche Libertäre sagen sogar: Ist doch super, die Bibel plädiert für eine flat tax von zehn Prozent. Man kann sich aber nicht einzelne Verse oder Phrasen rauspicken, sondern muss die Botschaft in ihrer Gesamtheit sehen. So wie Jesus über die Reichen spricht, da findet man dann Argumente für ein deutlich progressives Steuersystem. Wenn wir – wie nach dem Zweiten Weltkrieg – für die ganz hohen Einkommen sehr hohe Steuersätze hätten, würden wir natürlich auch dem Aufbau extremer Ungleichheiten vorbeugen. Und wir könnten damit die Entwicklung bremsen, dass Menschen anfangen, dem Mammon zu dienen, von ihm abhängig, süchtig und damit unfrei zu werden.
Sind Sie ein Herz-Jesu-Sozialist?
Wahrscheinlich würde ich es sogar als Kompliment nehmen, wenn mich jemand so bezeichnen würde. Vielen stramm Linken bin ich zu rechts und vielen Rechten zu links. Ich bin Mitglied in der SPD, dort verorte ich mich eher im progressiven Flügel. Die Agenda 2010 hat für mich nichts mit sozialdemokratischer Politik zu tun.
Und Sie sind Christ.
Ja. Meine Eltern stammen aus Polen, sie haben mich entsprechend katholisch erzogen. Mit der Zeit ist mir der Glaube immer wichtiger geworden. Wenn es hochkommt, habe ich in meinem ganzen Leben vielleicht fünf oder sechs Sonntagsgottesdienste verpasst. Und zweimal nur deswegen, weil ich die Zeitumstellung im Oktober vercheckt habe und schon der Schlusssegen gesprochen wurde, als ich gerade reinkam. Der Glaube ist ein ganz wesentlicher Bestandteil meines Denkens und Handelns.
Trägt die CDU das „C“ zurecht im Namen?
Mit Friedrich Merz und Carsten Linnemann an der Spitze macht die CDU eher Oppositionspolitik gegen das „C“.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Zum Beispiel die Asyl- und Migrationspolitik. Natürlich muss man das Thema vernünftig debattieren. Aber die Art und Weise, wie dort Menschen in verschiedene Klassen eingeteilt werden, finde ich absolut erschreckend. Oder die Arbeitsmarktpolitik: Statt sich für höhere Löhne einzusetzen, schießt sie gegen das Bürgergeld und hetzt die Ärmsten der Gesellschaft gegen die etwas weniger Armen gegeneinander auf. Das hat für mich nichts mit einer Partei zu tun, die sich als Anwalt der Armen bezeichnen würde, was eine christliche Partei an sich ja eigentlich sein sollte.
Zur Person
Patrick Kaczmarczyk ist promovierter Politökonom und seit mehreren Jahren in der Entwicklungsberatung tätig. Nach eigenen Angaben ist er derzeit Berater bei der UNO Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD) in der Africa, LDC and Special Programmes Division (ALDC).
Der Historiker Andreas Rödder, bis vor kurzem Chef der CDU-Grundwertekommission, kann sich gut vorstellen, das „C“ im Parteinamen abzuschaffen. Eine gute Idee?
Wenn ich die Politik der Union ansehe, fände ich das nur konsequent. Auf der anderen Seite fände ich es sehr schade, wenn man sich vom Christentum distanziert. Dabei wäre eine christliche Partei in Deutschland unglaublich wichtig. Gerade jetzt in Zeiten großer Polarisierung und Abstiegsängste und wo gerade am unteren Ende viele Menschen nicht mehr wissen, wie sie über die Runden kommen sollen. Aber diese Partei gibt es gerade nicht.
Wenn man den Sozialstaat ausbauen und Löhne anheben will, muss man das Geld vorher erwirtschaften. Ansonsten bürden wir die Schuldenlast den nachfolgenden Generationen auf. Das wäre auch nicht gerade christlich.
Wirtschaft ist keine Bärenjagd, wo ein Bär erlegt und dann das Fell verteilt wird. Was erwirtschaftet wird, hängt neben dem Kapitalstock ganz wesentlich von der Nachfrage ab, und die wiederum hängt von den Löhnen ab. Zu den nachfolgenden Generationen: Wenn man Schulden mal rein bilanziell betrachtet, steht diesen irgendwo ein Vermögenswert gegenüber. Sowohl Schulden als auch Vermögen werden weitervererbt. Man vererbt also auch das zusätzliche Vermögen, das durch die Schulden entstanden ist. Und gerade im Blick auf die Transformation der Wirtschaft hin zu Nachhaltigkeit wird es ohne den Staat nicht gehen. Konservative sprechen oft von Eigenverantwortung und Subsidiarität. Dabei vergessen sie aber, dass die nächsthöhere Instanz eingreifen muss, wenn es die niedrigere nicht schafft. Im Vergleich zu den vergangenen 40 Jahren brauchen wir da eine Wende um 180 Grad.
Es gibt also viel zu tun.
Und die Prinzipien der christlichen Soziallehre ist ein Kompass, an dem wir uns dabei orientieren sollten.