Nimmt der Käfig dem Vogel die Freiheit, oder schützt er ihn vor Gefahren?

Im Film „The Starling Girl“ hat ein 17-Jähriges Mädchen eine Affäre mit dem Jugendpastor. Als das herauskommt, verdammt die Gemeinde das Mädchen. Ist das noch Fürsorge oder schon geistlicher Missbrauch?
Von Jörn Schumacher
Die 17-jährige Jem Starling hat in dem Film „The Starling Girl“ eine Affäre mit ihrem Jugendpastor

Für ihren Film „The Starling Girl“ verbrachte die amerikanische Regisseurin Laurel Parmet einige Zeit in einer freikirchlichen Gemeinde in Oklahoma. Ihr Film, der Anfang 2023 auf dem Sundance Film Festival Premiere feierte und nun auf amerikanischen Streamingdiensten wie Amazon Prime, Vudu und YouTube zu sehen ist, handelt von der 17-jährigen Jem Starling, die in einer streng christlichen Gemeinde aufwächst.

Die Kleiderordnung ist strikt, Mädchen tragen Röcke und Blusen, überall und ständig dudelt sanfte christliche Country-Musik, und den Gemeindemitgliedern ist ein Lächeln ins Gesicht gemeißelt. Doch in Jem regen sich neue Gefühle, eine Sehnsucht nach Freiheit, körperlicher und seelischer Natur. In einer Affäre mit dem Jugendpastor Owen bricht sich diese jugendliche Sehnsucht auf fatale Weise Bahn.

Maßgeblich provozierte Affäre

Jems Eltern wollen ihr Mädchen eigentlich verkuppeln mit Ben, einem außerordentlich schüchternen Jungen, mit dem Jem rein gar nichts anfangen kann. Er ist auch noch der Sohn des strengen und trockenen Pastors. Jem ist viel mehr interessiert an Bens älteren Bruder, den Jugendpastor Owen. Und der lässt sich tatsächlich auf eine Affäre mit Jem ein, ja, provoziert diese sogar maßgeblich.

Sinnbildlich für den Konflikt zwischen den strengen Regeln der freikirchlichen Gemeinde einerseits und dem Wunsch daraus auszubrechen, steht im Film der Tanzkurs, den Jem leitet. Der Tanz ist Jems Kanal, über den sie ihren Körper und die Welt da draußen spüren kann.

Doch auch hier schlägt die strenge Gesetzlichkeit der christlichen Gemeinde erbarmungslos zu: Die Bewegungen sind zu anzüglich, durch die Bluse kann man den BH sehen, die Musik hat zu viel Schlagzeug und so weiter. Jem selbst ist so indoktriniert, dass sie sich sogar sorgt, ihr Tanzen könne ihr am Ende noch Spaß bereiten – dann würde sie es ja für sich selbst machen, und nicht für den Herrn.

Wer fromme Regeln bricht, muss ins christliche Besserung-Jugendcamp

Owen ist das genaue Gegenteil dieser Gesetzlichkeit, er kommt frisch aus Puerto Rico zurück und bringt von dort eine große Portion Lebensbejahung mit. Das Gefühl steht bei ihm ein wenig über den frommen Gesetzen. Kirche sollte sich nicht an Doktrinen halten, sondern auch mal Spaß machen, findet er, Zelten mit Lagerfeuer und Marshmallows sind ebenso erlaubt wie Tanzen! Das (ver)führt ihn allerdings zu einer sexuellen Beziehung zu Jem, die halb so alt ist wie er.

Das pubertierende Mädchen wiederum interpretiert die gar nicht gesunde Beziehung auf ihre Weise christlich um und garniert sie, wie sie es in ihrer Gemeinde nicht anders gelernt hat, mit frommen Sätzen. „Wir sind füreinander gemacht“, fantasiert sie sich zusammen, oder: „Gott will, dass Owen und ich zusammen sind“ und „Wir beide haben viel darüber gebetet“.

Für Jems Mutter und den Pastor ist klar: Der Satan hat Jem eingeflüstert, den Jugendpastor zu verführen. Sie sollte daher nun in ein christliches Jugendcamp abgeführt werden, das nichts anderes ist als eine Art Besserungsanstalt. Ein schüchterner Junge aus der Gemeinde musste dort vor kurzem erst hin, weil er Pornos geschaut hatte.

Der Film stellt gekonnt den Konflikt dar, der jeder christlichen Gemeinde und vielleicht sogar jedem christlichen Glaubensleben innewohnt: Ab wann ist es Sünde, das Leben zu genießen? Ist es denn nicht gut, dass es Regeln gibt, die vor schlimmen Fehltritten bewahren? Muss nicht eine Gemeinde ihre Schäfchen durch einen Zaun an Regeln vor den Anfechtungen des Teufels beschützen? Aber ab wann ist das geistlicher Missbrauch? Jem jedenfalls soll eher aus Familie und Gemeinde ausgestoßen werden als dass ihr echte Vergebung zuteil wird. Die Liebe Gottes stellen diese Christen damit auf den Kopf, oder besser: weit unter ihre eigene Gesetzlichkeit.

Bringt Erkenntnis der eigenen Unvollkommenheit näher zu Gott?

Regisseurin Parmet macht den inneren Konflikt der jungen Jem nachvollziehbar: Natürlich ist es nicht richtig, mit dem verheirateten und viel älteren Jugendpastor eine sexuelle Beziehung anzufangen; andererseits war er die große Versuchung, das zu spüren, was Freiheit und die Lust am Leben bedeuten können. Die uralte Frage, ob Christsein bedeutet Gesetze zu erfüllen oder frei zu sein, spricht der Film an, ohne sie am Ende so zu beantworten, wie Luther sie vielleicht beantwortet hätte, nämlich mit: sowohl als auch.

Ihm zufolge ist „in Christenmensch ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan“ und zugleich „ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“ („Von der Freiheit eines Christenmenschen“). Und so manch einen, wie auch Luther selbst, hat die Erkenntnis der eigenen Unvollkommenheit überhaupt erst näher zu Gott und zu seiner Barmherzigkeit geführt.

Eine Lösung für diesen inneren Konflikt und einen Weg durch die Entscheidungen, die das ganze Leben durchziehen, kann und muss wohl jeder Gläubige selbst für sich finden. Falsch und mit Sicherheit nicht von Gott gewollt wäre es wohl, sich nur auf Gesetze zu berufen, die in irgendwelchen Kapiteln der Bibel stehen oder die sich eine Gemeinde ausgedacht hat. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ heißt es in Galater 5,1, und leider bedeutet diese von Gott gegebene Freiheit eben auch die Bürde, selbst und für das eigene Leben Entscheidungen zu treffen – und aus Fehlern zu lernen.

Am Ende schimmert diese Erkenntnis auch für Jem Starling ein wenig durch, als sie sich befreit aus den Fesseln dieser für sie viel zu engen Umzäunung ihrer Gemeinde. Ihr Nachname steht übrigens – vielleicht nicht zufällig – für den Vogel Star.

„The Starling Girl“, 106 Minuten, Regie: Laurel Parmet, bei Amazon Prime, Vudu, AppleTV, YouTube u.a. (USA)

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