Schach auf dem Müllberg

Sie lebt auf einem Berg aus Müll – und ist trotzdem stolz. Uwe Heimowski über Dankbarkeit inmitten von Unrat.
Von Nicolai Franz

Es stinkt. Eine ätzende, undefinierbare Melange von Ausdünstungen. Vergorene, rauchdurchsetzte Luft beißt giftig in die Augen und die Lungen. Angesengte Plastiksäcke und Papierstapel schwelen vor sich hin.

Und mittendrin sitzt sie. Eine steinalt anmutende Frau – obwohl sie vielleicht erst fünfzig sein mag. Die Haare trägt sie unter einem Kopftuch verborgen. Den Leib hat sie in zerrissene, vor Dreck starrende Pullover gehüllt, die sie in mehreren Schichten übereinander trägt. Die stämmigen Beine, die von dicken Verbänden umwickelt in Plastik Badelatschen stecken, lugen unter verfilzten Wollröcken hervor.

„Rattenbisse“, flüstert meine Begleiterin mir zu und zeigt auf die Binden, „das kommt hier leider dauernd vor, oft entzünden sich die Wunden. Wir desinfizieren und bringen Verbandszeug mit.“ Zweimal in der Woche besucht ein Team der Heilsarmee die Menschen auf dem Müllberg. Heute – an einem Tag Mitte der 1990er Jahre – darf ich sie begleiten. Ich bin als Referent zu einer Weiterbildung für Sozialarbeiter zum Thema: „Christliches Menschenbild“ nach Klaipeda eingeladen, vorher hospitiere ich einen Tag lang bei der Arbeit der Heilsarmee.

Ein Gefühl wie in Kalkutta – aber wir sind in der EU

Vor den Toren der baltischen Stadt an der Ostsee, unweit der idyllischen kurischen Nehrung, türmt der Müllberg sich auf. Provisorische Blechhütten sind um den Müll herum errichtet. Mehrere Dutzend Menschen leben hier. Ich fühle mich, als sei ich in Kalkutta, Indien, gelandet, und nicht in Klaipeda, Litauen, Mitglied der Europäischen Union.

Die Menschen ernähren sich von Essensresten und Abfällen, die sie aus dem Müll klauben, und von den Erlösen für die Wertstoffe, die sie in große Plastikbeutel sammeln. Mächtige Müllautos kippen ihren dünstenden Inhalt auf den Berg, Planierraupen wälzen heran, um die neue Lage Unrat zu verdichten. Die Müllbergbewohner stürzen herzu und sammeln in den wenigen Minuten alles Verwertbare aus dem Unrat heraus. Mitunter gerät einer unter die Raupenketten, schwerste Verletzungen sind keine Seltenheit.

Die alte Frau sitzt auf einem Plastikstuhl, vor ihr steht ein Hocker. Darauf liegt ein Schachbrett. Ihr gegenüber sitzt ein alter Mann, sie sind in ihr Spiel vertieft. Als sie meine Begleiterin, die Leiterin der Heilsarmeestation in Klaipeda, bemerken, begrüßen sie herzlich. Ich werde vorgestellt. Mit Übersetzung ergibt sich ein Small Talk. Die Frau fragt mich nach Deutschland, wir reden ein bisschen übers Schachspiel.

Stolz inmitten des Mülls

Nach einer Weile fasse ich Mut und frage sie, wie sie eigentlich hier auf dem Müllberg leben könne. Mich schockieren die Umstände, mir geht das alles unter die Haut. Und vielleicht bin ich etwas unverblümt mit meiner Frage. Doch was macht die Frau? Sie runzelt die Stirn, dann strahlt sie mich an, und zeigt mir ein breites Lächeln aus schwarzen Zahnstummeln. „Ist es nicht schön, dass ich von der Arbeit meiner Hände leben kann?“, erklärt sie mir voller Stolz. „Viele Menschen brauchen Unterstützung vom Staat, aber wir hier auf dem Berg, wir können für uns selber sorgen. Gott sei Dank.“

Für einen Moment bin ich sprachlos. Perplex. Was geschieht hier gerade? Meine Eindrücke wollen nicht zusammenpassen. Ich sehe die Blechbuden, den Dreck, die Rattenbisse, die Infektionen. Und die Frau? Sie ist stolz auf ihre Arbeit, auf ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Sie spielt Schach und versorgt sich selbst.

Ich halte ein theoretisches Seminar über das „Christliche Menschenbild“. Sie lehrt mich ganz praktisch etwas über den Menschen. Die Würde des Menschen, geschaffen zu Gottes Ebenbild, ist auch von einer hochgetürmten Müllhalde nicht antastbar.

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