Es beginnt mit einem Schuhkarton voller Briefe, die seine Mutter Reinhold Beckmann kurz vor ihrem Tod gibt. Daraufhin begibt der TV-Journalist sich auf Spurensuche. An deren Ende steht das Buch „Aenne und ihre Brüder“. Es nimmt den Leser mit in das Aufwachsen einer Generation, die mit Verlust, Einsamkeit und dem Wunsch nach Frieden konfrontiert ist. Beckmann fragt aber auch nach der Kraft, die der Glaube für seine Mutter gehabt hat.
Aenne Haber ist fest im Glauben verankert. Das hilft ihr, die Traurigkeiten des Lebens auszuhalten. Denn Niederschläge und Verluste hat die junge Frau im kleinen Dorf am Rande des Teutoburger Waldes einige zu verkraften. Das Leben der Familie des dörflichen Schusters ist geprägt von harter Arbeit. Der Vater erlebt die Grausamkeit des Ersten Weltkrieges. Aber in der streng katholischen Gegend steht der Glaube an erster Stelle und erster viel später die Politik.
Bereits im Folgejahr 1922 stirbt Aennes Mutter — und auch der Vater, der danach schnell neu heiratet, stirbt mit 41 Jahren ausgezehrt vom Leben an den Folgen der Tuberkulose. Für die Kinder bedeutet das, sich früh mit dem Tod und der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen — in einem Elternhaus, in dem durch das strenge Regiment der Stiefmutter für Herzenswärme nicht viel Platz blieb.
Kreisleitung versucht, den Widerstand in den Griff zu bekommen
In dem Dorf Wellingholzhausen entscheidet der Glaube — und der macht es vielen unmöglich, die NSDAP und Hitler zu wählen. In dem kleinen Dorf wählt das Gros der Bewohner Zentrumspartei, aber gewiss nicht Hitler und seine Anhänger. Als die NSDAP an der Macht ist, muss die Kreisleitung das Dorf in den Griff bekommen.
Mit dem Nazi-Terror sind Ideen verbunden, mit denen sich Beckmanns Mutter arrangieren muss, aber nie anfreunden wird. Auch die christlichen Gemeinden stehen vor einem Dilemma. In das Weltbild der Nazis passt kein gekreuzigter Jesus, sondern es braucht einen Helden. Die Gläubigen vor Ort haben trotzdem eine ungebrochene Frömmigkeit.
Das Buch erzählt davon, wie Aenne und ihre Brüder alle ihre Wege gehen — so unterschiedlich sie auch sind. Sowohl die historischen Entwicklungen als auch der Verlauf des Krieges nehmen alle unterschiedlich wahr. Das erste Weihnachten im Krieg lässt das Dorf zusammenrücken. Und im „historischen Wahn“ der damaligen Zeit denken Viele, dass „Hitler über Wasser gehen“ kann.
Kriegsgeneration wird radikaler, aber auch nachdenklicher
Das, was in dem kleinen Dorf geschieht, bettet Beckmann in das politische Weltgeschehen ein. Er schreibt von Menschen, die einerseits radikaler, andererseits aber auch nachdenklicher werden, nach dem, was sie an der Front, aber auch im Umgang mit Behinderten erlebt haben. Das Dorf wird Zeuge, wie viele der jungen Menschen nicht zurückkehren und viel Leben ungelebt bleibt.
Das Buch berichtet von der „unerschütterlichen Gottesfürchtigkeit vieler Dorfbewohner“, die das Ende „dieses Schwindels“ und der Ausweglosigkeit erhoffen. Es zeigt aber auch die Konflikte zwischen der Kirche und dem Regime auf, die sicher nicht nur in diesem Dorf eskalierten und das kirchliche Leben, gelinde gesagt, störten.
Beckmann lässt die Heimkehrer zu Wort kommen, die auch ihre Schuldgefühle haben, weil sie das Massaker des Krieges überlebt haben. Er verschweigt nicht die innerfamiliären Konflikte der Zeit, die der Krieg mit sich gebracht hat, inklusive der Frage, wer den guten Kampf gekämpft hat. Und ganz am Ende geht es auch um die Rolle der Kirchen sowie der Christen an der Basis. Beckmanns Mutter war eine Frau, die die Pflichten erfüllte, die ihnen der Glaube aufgab.
Beckmann stellt aber auch die Fragen seiner und der betroffenen Generation: ob es einen Gott auf den Schlachtfeldern gibt, ob das Hitler-Regime vermeidbar war und wie und warum eine Generation ihre Träume und Hoffnungen begraben musste. Sicher ist die Familie Beckmann nur eines von vielen solcher Schicksale. Aber es ist wichtig und wertvoll, dass der Journalist das Thema aufgegriffen und niedergeschrieben hat — für die vielen anderen, die vielleicht nicht so rede- und schreibgewandt sind. Denn das deutsche Gedächtnis braucht solche Bücher. Gerade in aktuellen politischen Debatten tut es gut, sich der deutschen Geschichte zu erinnern.
Reinhold Beckmann, Aenne und ihre Brüder — Die Geschichte meiner Mutter, Propyläen-Verlag, 352 Seiten, 26 Euro.