Sie gilt als eines der meistverbreiteten Liederbücher in Deutschland: die „Mundorgel“. Das kleine rote Liederbuch, das früher in jede Brusttasche passte und bei keinem Klassenausflug fehlen durfte, ist mittlerweile 70 Jahre alt. Am 17. August 1953 wurde es zum ersten Mal ausgeliefert. Vier junge Mitarbeiter des Christlichen Vereins Junger Männer (CVJM) hatten 1953 die Idee, das Liederbuch für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zusammenzustellen. Sieben Jahrzehnte später ist das Heft mit inzwischen 278 Liedern – von christlich bis einfach nur lustig – immer noch vielen ein Begriff.
Millionen mal verkauft
Mitarbeitende in Kirchengemeinden und Seniorengruppen, in der Kinder- und Jugendarbeit oder Schulen greifen weiterhin auf die Texte der „Mundorgel“ zurück. Zu den bekannteren Liedern zählen etwa „Morning has broken“, das durch die Version von Cat Stevens populär wurde, „Der Mond ist aufgegangen“, „Die Affen rasen durch den Wald…“ oder „Laudato si“. Das Heft, das in seiner aktuellen Neufassung aus dem Jahr 2001 zu bekommen ist, verzeichnet seit 1953 eine „verkaufte Gesamtauflage zwischen 14 und 15 Millionen“, sagte der Geschäftsführer des Mundorgel-Verlags, Hilger Müller, dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Die aktuelle „Mundorgel“ enthält auch eine Reihe mehrsprachiger Lieder. Dafür fielen andere im Laufe der Jahrzehnte aus dem Heft, unter anderem solche, die im Verdacht standen, rassistisch zu sein. 2001 habe es die letzte Überarbeitung gegeben. Und: „Da die Mundorgel auch als Schulliederheft gelistet ist, mussten wir die damalige Rechtschreibreform berücksichtigen“, erläutert der Geschäftsführer des Verlags.
Die vergangenen zweieinhalb Jahre seit Beginn der Corona-Pandemie waren laut Müller nicht einfach für den Verlag. „Singen war wegen der Ansteckungsgefahr ja stark verpönt, und Treffen von sangesfreudigen Menschen gab es vorsichtshalber kaum.“ Vor zwei Jahren musste der Verlag nach eigenen Angaben dennoch Nachdrucke machen lassen. Gefragt waren für den Einsatz beim Seniorensingen „Mundorgeln“ mit entsprechend größeren Buchstaben der Liedtexte sowie Hefte mit Spiralbindung für eine begleitende Gitarre.
„Mundorgel-Project“ verhilft zu neuem Schwung
Froh ist der Verlag, dass die roten Liederhefte inzwischen Einzug in Theater und Theaterfestivals gehalten haben. „Mundorgel-Project“ heißt etwa eine musikalische Reihe, die als Mitsingabend im Schauspielhaus in Dortmund stattfindet. Und seit drei Jahren gibt es mehrere „Mundorgel“-Abende auf dem Kulturfestival „Ruhrfestspiele“ in Recklinghausen.
Mitsing-Abende vom „Mundorgel-Project“ gab es auch bereits im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund, im Museum Dortmunder U und in mehreren Kirchen. Werner Krüger, Musiklehrer aus Köln, freut sich über eine kleine „Renaissance des gemeinsamen Singens“. Da werden für viele ältere Menschen Erinnerungen wach: Werner Freitag aus Düsseldorf, früher Pfadfinder, etwa erinnert sich an sein Lieblingslied aus der Mundorgel vor 40 Jahren. „Das war ‚We shall overcome’“, sagt der 60-Jährige. Bei Rainer Korfmann aus Grevenbroich steht die „Mundorgel“ nach wie vor im Bücherregal. „So zehn bis 15 Lieder kann ich heute noch auswendig“, sagt der 70 Jahre alte Rentner.
1975 stand die „Mundorgel“ sogar auf dem fünften Platz der Jahresbestsellerliste. Die Zeiten, in denen massenweise wandernd gesungen wurde, sind vermutlich vorbei. Heute hat der Verlag auch andere Liederbücher im Angebot. Da gibt es etwa „Halleluja Christ ist da“ mit alten und neuen Liedern zum Advent oder zu Weihnachten, „Jesus Songs“ oder auch „Die schönsten Lieder“ mit Titeln aus verschiedenen europäischen Ländern. Der Geschäftsführer des Mundorgel-Verlags freut sich über das 70-jährige Jubiläum des Liederhefts. „Es ist aber auch klar, dass es die Mundorgel irgendwann nicht mehr geben wird“, sagt Müller.