Das Fahrrad boomt. Nach dem Corona-Jahr, in dem Millionen Fahrräder verkauft wurden, hält die Begeisterung für das umweltschonende Fortbewegungsmittel in Deutschland und weltweit an. Der katholische Pastor Hermann-Josef Brandt aus Duisburg hat mehrere Pilgerwege extra für Fahrradfahrer entworfen. „Das Radfahren liegt ja immer mehr im Trend. Von daher lag es nahe, den alten Pilgergedanken auch auf das Fahrradfahren zu übertragen“, sagt der Geistliche im Interview mit Domradio.
Allein im Jahr 2020 wurden in Deutschland rund fünf Millionen Fahrräder und E-Bikes verkauft – der Sektor zählte mit einer Wachstumsrate von 41,3 Prozent im Jahr 2020 zu den klaren Gewinnern der Coronakrise. Weltweit wurden 2021 54 Milliarden Dollar mit dem Verkauf von Fahrrädern umgesetzt. Dabei sind besonders E-Bikes beliebt wie nie zuvor: etwa 40 Prozent aller Neu-Räder in Deutschland sind inzwischen mit einem Elektroantrieb ausgestattet.
Hermann-Josef Brandt ist Pastor aus der Duisburger Pfarrei St. Judas Thaddäus. Er hat Fahrradrouten entlang der Pilgerwege des Bistums Essen entworfen. Eine führt beispielsweise von Duisburg-Ruhrort zum Essener Dom, eine weitere startet in Gelsenkirchen-Buer und eine in Bochum. Ziel ist immer Essen. Seine Routen kann man sich auf der Website der Gemeinde als GPX-Datei für die eigene Navigations-App herunterladen. So kann man den Tourverlauf etwa auch mit Google Earth anzeigen lassen. Zu allen Strecken hat Brandt auch Impuls-Texte formuliert, die sich auf markante Orte beziehen. Die Wegstrecken zusammen mit den Impulsen sind auch in den Outdoor-Apps Komoot und Outdooractive zu sehen.
Das Besondere am Radpilgern gegenüber dem Pilgern zu Fuß beschreibt der Pastor, der selbst begeisterter E-Biker ist, gegenüber Domradio so: „Man ist nicht nur schneller unterwegs, sondern legt an einem Tag einer solchen Wallfahrt ja auch eine größere Strecke zurück. Und man macht andere, ganz eigene Körpererfahrungen. Eine dieser grundlegenden Erfahrungen ist, dass ich dann meinen Atem ganz besonders spüre. Eine weitere ist, dass ich auch in eine Regelmäßigkeit des Rhythmus hineinkomme.“
Als Beispiel nennt Brandt das Schloss Borbeck, die Sommerresidenz der Fürstäbtissinnen von Essen. Hier könne man über die „Powerfrauen“ von damals und heute nachdenken sowie über „die Rolle der Frau heute in Gesellschaft und Kirche“. Brandt betont, man komme auch auf jeden Fall an vielen Biergärten und Ausflugslokalen vorbei – „Das ist hier im Ruhrgebiet alles relativ dicht. Von daher ist man nicht fernab jeglicher Gastronomie und Erfrischung.“
„Die unmittelbarste spirituelle Erfahrung beim Radfahren ist das Atmen“
Eine Reporterin der Zeitung Mühlheimer Woche hat sich einem Selbstversuch unterzogen und ist einen der Fahrrad-Pilgerwege abgefahren. Andrea Rosenthal fragte sich: „Wie geht Fahrradpilgern eigentlich? Mit Rosenkranz am Lenker und einer Jakobsmuschel an der Satteltasche?“ Auf jeden Fall nutzte die Journalistin die Gelegenheit, „wieder über das eigentliche Pilgern nachzudenken, über Besinnung und Spiritualität“.
Sie lässt Gereon Alter zu Wort kommen, den langjährigen „Wort zum Sonntag“-Sprecher, der seit vielen Jahren oft mehrere Wochen auf dem Fahrrad verbringt. „Die unmittelbarste spirituelle Erfahrung beim Radfahren ist das Atmen“, sagt Alter. „Die Bibel verwendet für Atem und Heiliger Geist dasselbe Wort.“ Der radelnde Priester ergänzt: „Wenn ich beim Radfahren auf meinen Atem achte, spüre ich sofort, wie es mir geht. Und ich kann Einfluss auf mein Atmen nehmen – und damit auf mein gesamtes Befinden.“
Als die Reporterin eine Steigung hinter dem Duisburger Zoo hochradelt, muss sie schon ein wenig mehr pumpen, sie schreibt: „Der Atem geht bald genauso schnell, wie der zügige Antritt der Beine. Dass Atem und Gottes Geist dasselbe sind, klingt plötzlich gar nicht mehr so weltfremd.“ Die Autorin besucht die Bistumsakademie „Die Wolfsburg“ in Duisburg, sie füllt ihre Wasserflasche wieder auf und legt, wie sie sagt, eine „spirituelle Pause“ ein.
Als sie durch die Wälder des Mülheimer Südens fährt, ist sie begeistert: „Mal rasant bergab, mal an der Landstraße entlang und mal über entspannte Forstwege. Überall sprießt das Frühjahrsgrün hervor, es duftet, die Blätter rauschen … – einfach toll.“ Gereon Alter verweise auf den Heiligen Ignatius, der sagte, dass „Gott in allen Dingen“ zu finden sei. „Deshalb versuche ich in allem, was mir auf einer Radtour begegnet, auch eine Botschaft Gottes zu entdecken.“ Die Reporterin stellt fest: „Das ist hier im Uhlenhorst wirklich nicht schwer: Was für eine tolle Natur, welch tolle Schöpfung! Immerhin wird auf dem Rad das schlechte Gewissen etwas kleiner, weil wir Menschen in Deutschland – trotz vieler Anstrengungen – immer noch ziemlich viel dafür tun, diese Umwelt zu zerstören.“
Als Rosenthal beim Kloster Saarn in Mülheim an der Ruhr angelangt, in dem 600 Jahre lang Zisterzienserinnen gelebt, gebetet und gearbeitet haben, stellt sie fest: „Viel von diesem klösterlichen Geist ist auch über 200 Jahre nach der Schließung noch zu spüren.“ Vom Kreuzgang aus gehe es normalerweise in die Kirche, „die ist heute abgeschlossen, aber durch offene Fenster klingt leise Orgelmusik in den menschenleeren Kreuzgang – keine 200 Meter vom rauschenden Verkehr auf der Bundesstraße 1 entfernt wirkt das fast mystisch“.