Hilfe für ein würdevolles Sterben

Schwer kranke Menschen haben Angst, zu leiden. Manche wollen deshalb ihr Leben vorzeitig beenden. Doch das Leiden lässt sich lindern, darauf sind Palliativmediziner und -pfleger spezialisiert. Oft stecken hinter dem Sterbewunsch andere Bedürfnisse.
Von Jonathan Steinert

„Ich wäre froh, wenn es jetzt schnell geht“, sagt die Frau. Sie sitzt auf ihrem Bett im Hospiz. Von außen ist ihr nicht anzusehen, dass sie todkrank ist. Doch innen breitet sich ein Tumor immer weiter aus. Mittlerweile kann sie auf einem Auge nicht mehr gut sehen, der Tumor drückt auf den Sehnerv. Es ist kühl in dem Zimmer, das tut ihr gut. Sie hat oft das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen. Ein Gerät pumpt ihr Sauerstoff durch einen durchsichtigen Gummischlauch in die Nase.

Nicolai Deresz hockt ihr gegenüber, den Laptop auf den Knien. Der Palliativmediziner fragt, wie es ihr geht, was sie braucht, wie er helfen kann. Gleichzeitig tippt er in den Laptop, welche Medikamente bestellt werden müssen, und dokumentiert den Besuch. Deresz ist mit seiner Kollegin Kerstin Bopp vom Palliativteam Frankfurt unterwegs. Die Frau haben sie bereits betreut, als sie noch zu Hause wohnte.

Damit das Palliativteam für einen Patienten tätig werden kann, braucht es eine Verordnung vom Hausarzt. Nur dann bezahlt die Krankenkasse dafür. Das Palliativteam versteht sich als Kooperationspartner von Hausarzt, Pflege, Therapeuten und Angehörigen. Es kümmert sich darum, dass Patienten mit einer unheilbaren, lebensbegrenzenden Krankheit auf der letzten Wegstrecke ihres Lebens rundum gut versorgt werden.

„Wir ermöglichen das Sterben“, sagt Deresz. Er meint damit, dass die palliative Versorgung das Leben des Patienten nicht um jeden Preis medizinisch so lang wie möglich erhält. Die Menschen sollen statt im Krankenhaus in Würde in ihrer gewohnten Umgebung und so angenehm wie möglich aus dem Leben scheiden dürfen. Es geht nicht um Heilung, sondern um Linderung.

Die Ärzte und Pflegefachkräfte des ambulanten Palliativteams sind rund um die Uhr erreichbar und besuchen ihre Patienten mindestens einmal in der Woche. Dabei kümmern sie sich darum, Leid erträglicher zu machen – zum Beispiel durch Medikamente gegen Schmerzen, Luftnot, Übelkeit, Unruhe, Ängste. Oder sie organisieren jemanden für die Pflege, eine Haushaltshilfe, spezielle Therapien oder Menschen, die zu Besuch kommen.

Palliativteam Frankfurt, Nicolai Deresz, Kerstin Bopp Foto: PRO/Jonathan Steinert
Nicolai Deresz und Kerstin Bopp sind für das Palliativteam Frankfurt unterwegs

„30 Prozent unserer Arbeit sind medizinische Behandlung, 70 Prozent sind Gespräche“, überschlägt Deresz. „Die Anwesenheit von Menschen, Gespräche und körperliche Nähe vermindern das Leiden“, erklärt seine Kollegin Bopp, die als Krankenschwester eine Zusatzausbildung für palliative Pflege gemacht hat.

Sie beobachtet immer wieder, wie angespannte Beziehungen Patienten das Lebensende erschweren. „Der Gesprächsbedarf ist enorm. Wir sind alle heilungsbedürftig“, sagt sie. Einsamkeit ist in ihren Augen ein Symptom für eine individualistische Gesellschaft, die das eigene Ich in den Vordergrund stellt. Dadurch gehe der Sinn für die gegenseitige Fürsorge verloren.

Offene Fragen und Schuldgefühle

Ein Krebspatient, den Bopp und Deresz besuchen, leidet unter Depressionen und Angststörungen. Seine Familie findet keine Worte, um mit ihm über den bevorstehenden Tod und das bisherige Leben zu sprechen. Die Gesichtsknochen des Mannes treten unter der gelblichen Haut hervor. Als Deresz mit ihm spricht, muss er sich nah zu ihm beugen, um ihn verstehen zu können. Ja, ein Gespräch mit einer Seelsorgerin würde ihm bestimmt helfen, nuschelt der Patient.

Zum Palliativteam Frankfurt gehört auch eine Mitarbeiterin, die sich um Spiritual Care, die geistliche Begleitung der Patienten kümmert. Das bezahlt nicht die Krankenkasse, die Stelle finanziert sich über Spenden. Wenn Stephanie Link Patienten besucht und mit ihnen spricht, geht es oft um unverarbeitete Schuldgefühle, um Sinnfragen, um die Biografie. Link möchte die Menschen dorthin lenken, wo sie ihre Kraftquellen haben: Was hat ihnen im Leben früher schon einmal geholfen, was haben sie geschafft?

Für manche kommt da auch die Frage nach Gott ins Spiel. Link berichtet von einer 56-jährigen Frau, zweifache Mutter, Diagnose Hirntumor. Sie war katholisch aufgewachsen, hatte sich später jedoch davon gelöst. Durch ihre Krankheit konnte sie an ihre Erfahrungen aus der Kindheit anknüpfen und den Glauben als Kraftquelle wieder entdecken. Sie baute eine innige Beziehung zu Jesus auf und starb schließlich in dem Wissen, nicht allein zu sein.

„Wir haben in uns eine tiefe Sehnsucht nach Zugehörigkeit und danach, gehalten zu sein“, sagt Link. Ein Bedürfnis, das eine säkularisierte Gesellschaft ohne Bezug zu Spiritualität kaum stillen kann. Wenn Menschen von sich sagen, dass sie sterben wollen, sieht Link darin oft in erster Linie einen Hilferuf – weil sie unter Schmerzen leiden oder das Gefühl haben, von Gott und Menschen verlassen zu sein. „Das ist ein immenses Leid“, sagt sie. Deshalb ist dieser soziale und spirituelle Aspekt eine wichtige Säule für die palliative Versorgung.

So angenehm und würdevoll wie möglich

Jeden Morgen besprechen die Mitarbeiter des Palliativteams, wie es um die Patienten steht, wie die Behandlung angepasst werden muss, was zu organisieren, wer zu informieren ist. Bis zu sechzig Patienten kann das Team insgesamt betreuen. An diesem Montagmorgen stehen vierzig auf der Liste für die Besprechung, sieben Patienten sind am Wochenende verstorben.

Auch wenn die Mitarbeiter täglich mit Sterbenden zu tun haben, geht die Todesnachricht nicht ohne weiteres an ihnen vorüber. Jeden Mittwoch gibt es deshalb ein gemeinsames Ritual, in dem das Palliativteam der Verstorbenen gedenkt. Wer möchte, kann dabei von seiner Sicht und seinen Erlebnissen mit dem ehemaligen Patienten berichten. Außerdem gibt es eine monatliche Supervision.

Bopp erinnert sich an den Fall einer jungen Frau Anfang 20, intelligent, gut aussehend, sympathisch, inmitten ihrer Familie. „Da war so viel Liebe zu spüren“, sagt Bopp und kämpft mit den Tränen. Bopp und ihre Kollegin hatten sie ins Palliativ-Programm aufgenommen, ihr Zustand schien stabil. Doch noch auf dem Weg zurück zum Auto erhielten sie den Notruf, dass es der jungen Frau plötzlich immer schlechter geht. Sie starb wenige Stunden später.

Manche Patienten kann das Palliativteam aber auch aus seiner Betreuung wieder entlassen. „Stabilisieren“ nennen sie das. Die Medikamente und die Versorgung sind dann so gut eingestellt, dass der Patient zurechtkommt oder sich erholt.

Ein Hausbesuch führt Bopp und Deresz zu einer 97-jährigen Dame. Sie ist vor wenigen Tagen in die Palliativbetreuung aufgenommen worden. Auf dem Tisch stapeln sich ein Dutzend verschiedene Medikamente. Die Seniorin sitzt in eine Decke gehüllt auf dem Sofa, neben ihr ein leeres Weinglas. „Was ist denn Ihr Lieblingswein?“, fragt Deresz sie. „Crémant“, gibt sie zur Antwort. Sie sei oft müde und friere häufig, klagt sie. Der Arzt erklärt, dass das auch am hohen Alter liegt.

Im Gespräch wird klar, dass die Dame zunehmend überfordert ist, alle Medikamente zur richtigen Zeit zu nehmen und ihren Haushalt zu führen. Deresz und Bopp bleiben fast eine Stunde bei ihr, telefonieren mit Angehörigen und organisieren einen Pflegedienst. Es geht neben der medizinischen Begleitung darum, ein Netzwerk für die Dame aufzubauen, in dem sie gut versorgt ist. Pflegeheim ist für sie keine Option. „Wir wollen es Ihnen so angenehm wie möglich machen“, betont Deresz.

Ungestillte Bedürfnisse erkennen

Es kam auch schon vor, dass Patienten von ihm verlangten, ihnen „die Todesspritze“ zu verpassen, erzählt er. Dann muss er sie erst einmal darüber aufklären, dass das gerade nicht das Ziel der palliativen Betreuung ist.

Er berichtet von einer Patientin mit einem Tumor. Deren Söhne planten, mit ihr in die Schweiz zu fahren, um sich dort von einem sogenannten Sterbehilfe-Verein das Leben nehmen zu lassen. Deresz stellte klar: „Mein Job ist es, das Leiden erträglich zu machen. Geben Sie mir etwas Zeit dafür.“ Im Nachhinein habe der Sohn eingestanden, dass es ein Fehler gewesen wäre, dem Leben vorzeitig ein Ende zu setzen.

Als Christ könne er aus Überzeugung niemandem zu einem vorzeitigen Tod verhelfen, sagt Deresz. Er findet aber auch unabhängig davon, dass die Gesellschaft nicht diesen Weg gehen sollte. Denn er stellt fest: Der Sterbewunsch ist oft ein Ausdruck von unerträglichem Leid. „Wenn es gelingt, das erträglicher zu machen, ändert sich oft auch die Richtung“, sagt er. Oft hänge auch körperliches Leiden mit ganz anderen ungestillten Bedürfnissen zusammen. Die Kunst sei, diese zu erkennen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe 1/2023 des Christlichen Medienmagazins PRO. Das Heft können Sie hier kostenlos bestellen oder digital anschauen.

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