„An der Grenze unseres Könnens“

Daniel Zickler hat als Oberarzt auf der Intensivstation der Berliner Charité jede Corona-Welle miterlebt. Ein Gespräch über Glaube in Zeiten der Krise, Hoffnung im Angesicht des Todes und die Liebe zum Nächsten. 
Von Anna Lutz

PRO: Der Dokumentarfilmer Carl Gierstorfer hat Sie und Ihre Kollegen durch die zweite Welle der Pandemie im Winter 2020 begleitet. In der Doku heißt es: „Die Patienten hier sterben wie die Fliegen.“ Hatten Sie so etwas als Intensivmediziner schon einmal erlebt?

Daniel Zickler: Corona war in der ersten und zweiten Welle eine völlig neue Erkrankung. Das Immunsystem hatte keinerlei Schutzmechanismus. Die Erkrankten haben Thrombosen bekommen, Blutungen, Multiorganversagen. Und wir hatten dem kaum etwas entgegenzusetzen. Trotz Beatmung, Dialyse und Herz-Lungen-Maschine. Viele, viele unserer Patienten sind gestorben.

Wir Ärzte hatten andauernd das Gefühl: Wir ackern und ackern, aber irgendwo im Körper tut sich immer eine neue Baustelle auf. Ein so heterogenes Krankheitsbild kannten wir nicht. Wir hatten den Eindruck, dass die Bestatter ständig auf unserer Station waren und Verstorbene abgeholt haben. Normalerweise sehen wir das alle paar Tage mal.

Es hat uns auch klar die Grenzen unseres Könnens aufgezeigt: Gerade bei Patienten ohne Vorerkrankungen kannten wir es bisher nicht, dass sie sterben. Das war unglaublich deprimierend. Andererseits wussten wir: Wir tun, was wir können, und geben unser Bestes.

Gierstorfer schreibt im Nachwort zu Ihrem Buch „Kampf um jeden Atemzug“ über die Zeit, in der er auf der Intensivstation filmte: „Ich habe Wochen gebraucht, um mich von den drei Monaten dort zu erholen. Dabei war ich nicht einmal ansatzweise den Belastungen der Intensivmediziner ausgesetzt.“ Was war besonders schwer für Sie?

Die Dauerbelastung. Wir Intensivärzte sind daran gewöhnt, dass wir viel arbeiten, und sogar daran, dass Menschen sterben. Aber normalerweise haben wir Ruhephasen. Wir können mal zwölf Stunden schlafen und dann kann es am nächsten Tag auch weitergehen. Aber in der Pandemie waren wir teilweise bis um drei Uhr nachts im Dienst und wurden dann morgens um acht Uhr wieder in den Dienst gerufen. Und das viele Tage am Stück.

Außerdem war das alles emotional sehr anstrengend. Da sind so viele Menschen gestorben, wir haben mit so vielen Angehörigen darüber sprechen müssen, das war ein wahnsinniger Druck. Und das dann auch noch im Zustand der Erschöpfung. Ich kann heute kaum glauben, dass wir das durchgestanden haben.

Szene aus der ARD-Dokumentation „Charité Intensiv”, die auch Daniel Zickler begleitet hat

Mussten Sie jemals in der Pandemie über Leben und Tod eines Patienten entscheiden?

Wir Ärzte hatten immer im Hinterkopf, dass es zu Triage kommen kann, aber es ist nie passiert. Wir waren in Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen Ländern in der Lage, die absolute Maximaltherapie bei allen durchzuführen: Wir haben alle Patienten, die das brauchten und wollten, beatmet. Jeder hat eine faire Chance bekommen, da bin ich mir sicher. Und das ist ein großes Verdienst aller Mitarbeitenden auf Intensivstationen und der Gesellschaft insgesamt.

Aber klar ist auch: Es war knapp. Viel mehr hätte nicht kommen können, dann wären wir überlastet gewesen und hätten Menschen abweisen müssen. Wir haben auch so schon einen hohen Preis gezahlt. Ich denke dennoch, es war richtig, dass wir uns auf noch schlimmere Szenarien eingestellt haben. Denn die gab es in anderen Ländern und wir wussten in Deutschland nicht, was kommt.

Zugleich waren die Kinder- und Jugend­psychiatrien plötzlich voll – vermutlich auch wegen der Belastungen durch Kontaktbeschränkungen und andere Coronamaßnahmen. War es das wert?

Wir werden noch lange darüber nachdenken, welche Maßnahmen richtig waren und welche nicht. Wir ahnen schon jetzt, dass zum Beispiel die Kita-Schließungen möglicherweise ein Fehler waren. Aber wie hätte man das alles am Anfang der Pandemie wissen sollen?

Es sind 160.000 Menschen in Deutschland an Corona gestorben. Es wären deutlich mehr gewesen, wenn wir keine Maßnahmen gehabt hätten. Die Pandemie hatte viele negative Auswirkungen auf die Gesellschaft. Es ist aber auch nicht erwiesen, dass alle psychischen Probleme einzig und allein an Lockdown-Maßnahmen gelegen hätten. Viele sind schwer an dem Virus erkrankt, auch das kann mit dazu beigetragen haben. Aber natürlich gab es Maßnahmen, die rückblickend betrachtet nicht sinnvoll waren.

Welche?

Wir wissen heute, dass die Ansteckungsgefahr draußen recht gering ist. Da hätte es weniger Kontaktbeschränkungen gebraucht. Das Absperren von Spielplätzen zählt für mich dazu.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie an Gott glauben. Haben Sie sich je gefragt, warum er dieses Leid zugelassen hat?

Ich habe mir nie die Frage gestellt, warum Gott das zugelassen hat. Das ist aus meiner Sicht die falsche Frage. Es gibt Dinge in dieser Welt, die sind nicht gerecht. Aber: Gläubig zu sein hilft in jedem Beruf, in meinem ganz besonders. Ich weiß, dass ich fehlbar bin, auch wenn ich mein Bestes gebe. Und ich darf darauf vertrauen, dass Gott mir beisteht. 

Es gab während der Coronapandemie massive Widerstände gegen die Coronapolitik und die Maßnahmen gegen das Virus. Daran beteiligt waren auch christliche Gruppen. Was würden Sie denen gern sagen?

Ich würde sagen: 160.000 Menschen sind gestorben und viele sind sehr schwer krank geworden. Ich glaube, Masken haben uns geschützt und ihr seid auf dem falschen Weg.

Haben Sie in Ihrem Umfeld solche Christen getroffen?

Nein. Unsere Gemeinde hat sehr schnell geschlossen in der ersten Welle und auf Online-Gottesdienste umgestellt. Als wir wieder angefangen haben, uns zu treffen, war klar: Masken tragen und Abstand halten und später die Impfung, all dies sind Akte der Nächstenliebe, und wir haben uns daran gehalten. Das ist auch meine persönliche Meinung.

Natürlich habe ich hier und da mal jemanden getroffen, der sagte: Ich habe Gottvertrauen, da brauche ich keine Impfung. Nachvollziehen kann ich das nicht. Es setzt sich ja auch niemand wegen seines Gottvertrauens in ein Auto ohne Bremsen. 

Daniel Zickler: „Kampf um jeden Atemzug. Intensivmedizin: Erlebnisse und Aufschrei eines Insiders“, Bonifatius, 272 Seiten, 18 Euro

In der ersten Coronawelle waren die Kirchen geschlossen, im Fortlauf der Pandemie fielen viele Gottesdienste aus, Gesang war untersagt. War das gerechtfertigt?

Kirchen haben eine sehr wichtige Funktion, gerade für einsame Menschen. Es war richtig, sie früh wieder zu öffnen, aber das ändert nichts daran, dass es eine Ansteckungsgefahr gab, der sich die Besucher ausgesetzt haben. Es war gut, dass wir vorsichtig waren und Masken getragen haben. War jede einzelne Maßnahme richtig? Ich weiß es nicht. Aber die Diskussion ist auch müßig.

In Altersheimen und Krankenhäusern sind Menschen einsam gestorben, weil sie nicht mal Sterbebegleiter empfangen durften. Angehörige durften nicht zu ihren todkranken Ehepartnern.

Im Virchow-Krankenhaus der Charité, in dem ich arbeite, durften die Angehörigen immer Abschied nehmen, das sieht man auch in der Dokumentation. Ich weiß, dass es in vielen Krankenhäusern sehr strenge Auflagen gab. Wir waren vorsichtig, aber es durfte bei Schwerkranken immer eine Person für eine Stunde am Tag kommen. Mit Schutzausrüstung war das auch gut möglich.

Ausnahmen gab es nur, wenn die Angehörigen in Quarantäne waren. Ansonsten konnte jeder Patient Besuch bekommen. Im Rückblick würde ich sagen, dass man da auch andernorts liberaler hätte sein können. Andererseits ist in Pflegeheimen durch solche Maßnahmen eben auch verhindert worden, dass der Enkel die Oma angesteckt hat und sie gestorben ist.

Zwei Schicksale aus der Doku „Charité intensiv“ sind mir besonders im Gedächtnis geblieben. Da ist einmal Marco, der sich nach Beatmung mühsam zurück ins Leben kämpft und den Sie entlassen konnten. Und ein Mann, dessen Ehefrau an seinem Bett Lobpreis-Lieder singt und betet. Und der dennoch verstirbt. Was haben diese beiden Geschichten mit Ihnen gemacht?

Diese beiden Geschichten haben gezeigt, dass es mal so und mal so ausgehen kann. Beide Patienten waren in ähnlicher Weise betroffen. Beide haben dieselbe Therapie bekommen. Beide ähnelten sich von den Voraussetzungen. Aber nur einer hat es geschafft.

Ein Erfolgserlebnis wie bei Marco Wegner war für uns Ärzte extrem wichtig. Es hat uns gezeigt, dass nicht alles umsonst ist. Das andere Beispiel war besonders bewegend. Die ganze Familie stand am Bett des Mannes. Seine Frau hatte enormes Gottvertrauen, sie hat bis zum Ende geglaubt, dass ihr Mann es schafft.

Deshalb ist es mir auch sehr schwer gefallen, die Lage für sie realistisch einzuschätzen. Ich musste ihr sagen: Er schafft es wahrscheinlich nicht. Und das, ohne ihr das Gottvertrauen zu nehmen. Das war sehr schwer. Aber es war auch schnell spürbar, dass sie das alles sehr gut verarbeiten konnte. Sie hat noch am Totenbett danke gesagt – zu uns Medizinern, aber auch zu Gott für das Leben ihres Mannes.

Sie sind im Dezember 2021 zusammen mit Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Sendung von Joko und Klaas vor einem Millionenpublikum aufgetreten, um für die Impfung zu werben. Wie war das für Sie?

Das war ein Tag, an dem ich frei hatte. Mich rief der Pressesprecher der Charité an und sagte: Ich habe einen Anschlag auf Sie vor. Natürlich war ich aufgeregt. Es gab kein Skript und keinen Teleprompter. Aber das Team war supernett und so ging es gut. Die Reaktionen waren überwiegend positiv. Mein Sohn kam kurze Zeit später aus der Schule und erzählte begeistert, wir seien in den YouTube-Trends auf Platz 1.

In Ihrem Buch „Kampf um jeden Atemzug“ beklagen Sie das Abwandern zahlreicher Pflegekräfte und Mediziner wegen schlechter Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern. Nach fast drei Jahren Pandemie: Würden Sie Ihren Beruf in der derzeitigen Lage wieder ergreifen, wenn Sie die Wahl hätten?

Auf jeden Fall. Für mich ist es eine Berufung. Ich kann Menschen in schwierigen Lagen helfen, kann im Team arbeiten, und ein bisschen Action ist auch dabei. Sogar in der Pandemie habe ich gemerkt, wie ich das, was ich gelernt habe, einsetzen konnte, um Menschen zu retten. Das ist toll, neben allen Schwierigkeiten und dem Stress.

Was treibt Sie an?

Ich habe die Möglichkeit, Nächstenliebe zu leben. Meine Familie hilft mir. Und mein Glaube.

Sie stehen täglich auf der Arbeit an der Schwelle zwischen Leben und Tod Ihrer Patienten. Haben Sie schon mal ein Wunder erlebt?

In der rbb-Doku gibt es einen Moment, in dem ein Patient beim notfallmäßigen Legen der Herz-Lungen-Maschine einen Herz-Kreislauf-Stillstand erleidet. Darüber habe ich mir im Nachhinein viele Gedanken gemacht. Dass wir diesen Notfall so gut in den Griff bekamen, ist ein Wunder, für das ich extrem dankbar bin.

In meinen 15 Jahren auf der Intensivstation bin ich immer wieder Patienten begegnet, bei denen ich dachte: Der hat keine Chance. Und dann haben sie die Intensivstation doch auf zwei Beinen verlassen. Das würde ich ein Wunder nennen und es bewegt mich jedes Mal sehr.

Ich hätte auch nie gedacht, dass wir Ärzte durch die Belastungen der Pandemie gehen können, ohne zusammenzubrechen. Dass wir das geschafft haben und viele von uns jetzt noch weitermachen, ist wirklich bemerkenswert. Allerdings kenne ich auch Kollegen, die gesagt haben: Wir können nicht mehr.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieses Interview ist zuerst in der aktuellen Ausgabe des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Abonnieren Sie PRO kostenlos hier.

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