EKD-Chefin Kurschus wird 60: „Mein Glaube kennt auch Dürrezeiten“

Annette Kurschus ist EKD-Ratsvorsitzende – und wird an diesem Dienstag 60. Im PRO-Interview sprach sie vergangenes Jahr über Waffenlieferungen in die Ukraine, ihren persönlichen Glauben – und was sie Evangelikalen abgewinnen kann.
Von Nicolai Franz
Die Theologin Annette Kurschus

PRO: Sie sind im November 2021 vorigen Jahres zur EKD-Ratsvorsitzenden gewählt worden. Welche ist die größere Herausforderung für Sie: Der Missbrauchsskandal oder die sinkenden Mitgliederzahlen?

Annette Kurschus: Wir gehen mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln vor, um die Fälle sexualisierter Gewalt in unserer Kirche lückenlos aufzuarbeiten und um dafür zu sorgen, dass solche Verbrechen künftig im Raum der Kirche nicht mehr begangen werden. Die sinkenden Mitgliederzahlen führen zu einem intensiven Nachdenken darüber, welche Veränderungen in unserer Kirche dringend dran sind.

Wie kann denn die Kirche über den Glauben so sprechen, dass sie Menschen erreicht, die sich dafür gar nicht mehr interessieren?

Indem wir den Glauben unbeirrt weiter thematisieren. Und zwar so, dass Menschen spüren: Er ist eine Kraft, die zum Leben hilft. Das ist gerade der Clou! Wir können uns eben nicht am eigenen Schopf aus dem Elend ziehen. Medien fordern immer wieder von uns eine leichter verständliche Sprache. Ja – natürlich …

… sodass am Ende eine knackige Schlagzeile daraus werden kann …

… oder dass wir Worte wie „Gnade“, „Sintflut“ oder „Versöhnung“ nicht mehr verwenden, denn die verstehe heute angeblich niemand mehr. Das glaube ich nicht. Es ist wichtig, dass wir den Menschen nahebringen, was diese Begriffe meinen. Es sind kostbare Worte, mit ihrem Verschwinden würden wesentliche Inhalte verlorengehen.

Sie haben einmal gesagt, die Kirche müsse manchmal „sperrig“ kommunizieren. Nehmen Sie es in Kauf, dass Sie damit die verlieren, die nicht zur intellektuellen Elite gehören?

Ich erlebe keineswegs, dass in der Kirche über die Köpfe der Menschen hinweggeredet wird. Eher im Gegenteil. Die größere Gefahr sehe ich darin, dass wir undeutlich und beliebig werden und nur noch eigene Geschichten erzählen, um möglichst „niederschwellig“ zu kommunizieren. Viele Menschen sagen mir: Was ihr mir da erzählt, kann ich mit ein bisschen Lebenserfahrung genauso sagen, dafür brauche ich keine Kirche. Was den Glauben kostbar macht, hat unmittelbar mit unserem Alltag zu tun, aber es geht nicht in unseren Alltagsgeschichten auf. Die biblische Botschaft öffnet unser Leben für eine andere Wirklichkeit.

Theologische Substanz ist wichtig, aber man muss auch verständlich kommunizieren. Kirchenleute wissen oft gar nicht, dass sie eine Sprache benutzen, mit denen viele nichts anfangen können.

In den vergangenen beiden Jahren haben wir durch digitale Formate auch in dieser Hinsicht dazugelernt und neue Menschen für Kirche begeistern können. Im digitalen Raum braucht es Kürze und knackige Sprache, um diejenigen neugierig zu machen, die sich gerade zugeschaltet haben. Mir selbst macht es Freude, auf dem sprachlichen Feld zu experimentieren und Vertrautes ganz neu zu sagen.

Wie würden Sie jemandem das Evangelium erklären, der keine Ahnung von Glaube und Bibel hat?

Das Evangelium ist die gute Nachricht von Gott, aus dem alles Leben kommt, in den alles Leben münden wird und der sich nicht zu schade war, in Jesus Christus selbst Mensch unter Menschen zu sein. Jesus Christus steht mit seinem Weg dafür, dass Gott das Leben will – für ausnahmslos jeden Menschen. Wer diesen Gott ehrt, muss auch die Menschen ehren. Wer auf diesen Gott setzt, kann und darf sich nicht zufriedengeben mit Unrecht und Hass und Gewalt, auch nicht mit dem sorglosen Umgang mit der Schöpfung. Gott will, dass alle Menschen gerettet werden. 

Brauche ich eine Kirche, um glauben zu können?

Meine persönliche Erfahrung ist: Ich kann nicht alleine glauben. Mein Glaube kennt auch Dürrezeiten und ist gelegentlich Zweifeln ausgesetzt. Dann lebe ich davon, mit anderen Menschen in Kontakt zu sein, die ihren Glauben und ihre Zweifel mit mir teilen, die stellvertretend für mich glauben und beten, die mich in meinem Glauben stärken. Ich selbst brauche die Kirche als Gemeinschaft derer, die in der Spur Jesu Christi unterwegs sind.

Was sind das für Zweifel, die an Ihnen nagen?

Der Glaube macht viele Fragen zunächst eher komplexer als leichter. Wenn ich darauf vertraue, dass Gott etwas an dieser Welt liegt: Warum sorgt er nicht für einen Stopp im Klimawandel, warum lässt er Diktatoren wüten, warum bereitet er den elenden Kriegen auf Erden nicht endlich ein Ende? Gott kann das verstockte Herz eines Menschen zum Guten wenden, lesen wir in der Bibel. Warum tut er das nicht bei den Kriegstreibern in Russland? Wie lange, Gott, willst du dir das noch ansehen? Aber der Glaube erinnert mich auch daran, dass Gott an der Seite derer ist, die in Not sind – und dass kein Widerstand gegen Zerstörung und Bosheit ins Leere geht.

Am 13. April 2022 lief auf RTL „Die Passion“ – ein Popspektakel mit Stars und Sternchen aus Trash-TV, Vorabendprogramm und Pop. Die evangelische Kirche hat sich kaum daran beteiligt. War es Ihnen zu peinlich, dabei mitzumachen?

Der Eindruck trifft nicht zu, zumal ja sogar eine Medienpartnerschaft bestand. In unserer Kirche war eine Menge los rund um diese Passions-Show, bis hin zum Public Viewing in etlichen Gemeinden mit Begleitmaterial und Werbung.

Warum hat man von Ihnen so wenig dazu gehört? Immerhin haben drei Millionen Menschen zugeschaut.

Die öffentliche Aufmerksamkeit tut dem Thema gut. Ob man selbst einen Zugang dazu findet, ist letztlich eine persönliche Sache. Die Leidensgeschichte Gottes mit Stars und Glamour, diese Mischung aus Passion und Show, ist für mich persönlich höchst befremdlich. Die Oberammergauer Passionsspiele etwa oder die Passionsmusiken von Johann Sebastian Bach sind für mich etwas völlig anderes. Aber wie gesagt, das mag Geschmackssache sein.

Ich habe „Die Passion“ vor Ort verfolgt. Paare standen umschlungen da, Manche hatten Tränen in den Augen. Man mag die Show banal finden, aber wie will die Kirche Menschen erreichen, wenn sie sich vor deren Lebenswirklichkeit verschließt?

Es geht bei der biblischen Passionserzählung nicht zuerst darum, Emotionen hervorzurufen. Zum Weinen bringen auch Theaterstücke und Filme und Bücher. Ob die Leidensgeschichte eines Helden im Rampenlicht tatsächlich die reale Lebenswirklichkeit der Menschen trifft, bleibt meine Frage.

Dann werden Sie bei der Neuauflage von „Die Passion“ im kommenden Jahr wohl nicht dafür werben.

Hier geht es nicht um mich. Ich halte mich da zurück, bin aber froh, dass andere in unserer Kirche stark für dieses Projekt werben. Wenn es dazu hilft, dass Menschen neugierig werden auf den Glauben, dann ist das doch nur zu begrüßen.

Hätten Sie gedacht, dass Sie sich kurz nach Ihrer Wahl mit dem Thema Krieg und Frieden beschäftigen müssten?

Nein. Es ist immer irgendwo auf der Erde Krieg. Daran haben wir uns schrecklicherweise  gewöhnt. Bisher waren Kriege für mich immer schlimm, aber weit weg. Jetzt, da der Krieg geographisch näher rückt, beschäftigt er uns plötzlich ganz anders und viel existenzieller. Das ist zwar natürlich, aber es beschämt mich auch.

Sie haben in den 1980er Jahren gegen den NATO-Doppelbeschluss demonstriert. Waren Sie damals Pazifistin?

Tief im Herzen bin ich weiterhin Pazifistin. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass letztlich keine Waffe den Frieden bringt.

Sind Sie heute für Waffenlieferungen in die Ukraine?

Auf der großen Friedenskundgebung in Berlin kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges habe ich eine Rede gehalten. Unmittelbar nach mir sprach eine junge ukrainische Frau. Zuvor hatte ich zum Gebet für den Frieden aufgerufen. Das hat die Frau als zynisch empfunden. Beten sei zwar schön und gut, nur nütze Beten allein in der Ukraine gerade gar nichts. Ich traue dem Gebet viel zu. Doch zugleich muss ich anerkennen, dass dies bei der Frau so ankam, als lasse die Kirche Menschen in akuter Not im Regen stehen. Ich halte eine Unterstützung mit Waffen aus christlicher Sicht dann für möglich, wenn sie zur Selbstverteidigung von Leib und Leben hilft. Und dennoch bleibt das Dilemma: Jede Waffe zur Selbstverteidigung tötet potentiell anderes Leben.

Vielleicht ist es auch gar nicht die Aufgabe der Kirche, sich für einen klaren Weg auszusprechen und den anderen abzulehnen. Vielleicht sollte sie eher ein Spektrum dessen bezeichnen, was man als Christ verantworten kann.

Genau das. Leider werden wir permanent genötigt, Ja oder Nein zu sagen. Ein Ja oder Nein bildet aber in keiner Weise die Komplexität der Lage ab. Ich wünsche mir, dass das respektiert wird.

Das scheint Sie ganz schön anzugehen.

Ja, denn es geht hier um Leben und Tod. Da halte ich jede allzu leichtfertige Antwort für unangemessen leichtfertig. Ich verstehe ja, dass eine differenzierte Meinung nur schwer in eine Schlagzeile passt. Polarisierung bringt Quote. Aber so richtig nach vorne kommt dadurch nichts.

Zu Ihrer Landeskirche gehört auch das Siegerland, wo es viele pietistisch und evangelikal geprägte Kirchengemeinden gibt. Was verbindet Sie mit ihnen?

Die große Liebe zur Bibel. Wir haben keinen größeren Schatz als die Bibel und ihre Texte. Und uns verbindet der tiefe Ernst, mit dem wir das, was wir aus der Bibel erfahren, ins Leben zu übersetzen versuchen. Persönlicher Glaube und Verantwortung für das Leben in der Welt gehören untrennbar zusammen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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5 Responses

  1. Ich könnte jetzt wieder einiges schreiben, denn nicht zu allem kann ich eindeutig „Ja“ sagen, aber der letzte Absatz…

    „Die große Liebe zur Bibel. Wir haben keinen größeren Schatz als die Bibel und ihre Texte. Und uns verbindet der tiefe Ernst, mit dem wir das, was wir aus der Bibel erfahren, ins Leben zu übersetzen versuchen. Persönlicher Glaube und Verantwortung für das Leben in der Welt gehören untrennbar zusammen.“

    … versöhnt mich – nach den Äußerungen von Präses Heinrich – wieder ein wenig mit meiner Kirche.

    Gottes Segen zum 60ten, Fr. Dr hc. Kurschus

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  2. Herzlichen Glückwunsch, Frau Kurschus, zum 60. Geburtstag! Und wiederum erlebe ich Sie in diesem Interview so sympathisch, offen, ehrlich, manchmal auch gegen den „Mainstream“ in der eigenen Kirche, wofür ich Sie sehr schätze. Ich erlebe eine Frau, die sich nicht von außen verbiegen lässt, die so geblieben ist, wie ich sie im Siegerland kennengelernt habe. Die interessant und manchmal auch provokant spricht, der man zuhört, weil sie die Dinge, wenn möglich, kurz und knapp auf den Punkt bringt. Wie wichtig ist es doch, gerade auch auf geistlichem Gebiet, dass es einem gegeben ist, sich so klar und zweifellos auszudrücken, dass die wichtigste Botschaft für die Welt auch zweifelsfrei vom „Normalbürger“ verstanden werden kann! DANKE! Und alles Gute und Gottes Segen weiterhin!

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  3. eine symphytische Dame, vielleicht mit der Neigung es allen recht machen zu wollen. Das wird schwierig werden, wenn nicht sogar unmöglich. Das Kreuz so wir es denn predigen bleibt eben ein Ärgernis!

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  4. Mir hat dieser gesprächsknht jviel Hoffnung für uns Christen und alle Menschen gemacht.
    Wäre zu empfehlen für die grosse Pfarrers haft und uns laienchristen als lektüre

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    1. Leider nicht zu verstehen wegen des vielen „Buchstabensalates“.. Besonders im 4. Wort. Bitte dieses Wort mal in „Reinform“. Danke!

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