PRO: Sie machen sich für Aufklärung über die Möglichkeiten der palliativen Medizin stark. Worüber herrscht in der Bevölkerung die größte Unkenntnis?
Thomas Sitte: Viele sagen: So spät ist es noch nicht, um palliative Betreuung in Anspruch zu nehmen. Für die meisten bedeutet palliative Pflege die reine Sterbebegleitung. Außerdem meinen manche, mit palliativer Versorgung würde der Patient schneller sterben. Der dritte Bereich betrifft die Vorsorge. Wenn ich rechtzeitig eine Patientenverfügung oder Vorsorgevollmachten ausfülle und meine Wünsche am besten schriftlich festhalte, werde ich später am ehesten so versorgt, wie ich es möchte.
Was antworten Sie auf die anderen beiden Punkte?
Wer frühzeitig hospizlich-palliativ beraten wird ist und gezielt lindernd bei einer lebensverkürzenden Krankheit behandelt, beraten und begleitet wird, lebt besser und länger. Das ist für Krebs ebenso wie für neurologische Krankheiten und vieles mehr nachgewiesen. Es ist daher auch nicht sinnvoll, mit der Palliativbehandlung zu warten, bis man möglichst nah am Tod ist. Sie kann mit der Diagnose einer unheilbaren Krankheit beginnen, die irgendwann zum Tod führen wird. Wir sind Fachleute für Lebensqualität, wir können den Tagen mehr Leben geben und dem Leben mehr Tage.
Dr. Thomas Sitte ist Gründungsstifter und Vorstand der Deutschen Palliativstiftung mit Sitz in Fulda und macht sich gemeinsam mit der Katholischen Kirche für einen Ausbau der Palliativversorgung und gegen Sterbehilfe stark. Auf seinem Blog und auf YouTube klärt er über Möglichkeiten der palliativen Versorgung auf. In diesem Jahr erschien die erste Ausgabe des Magazins Schöner Leben der Deutschen Palliativstiftung.
Palliative Care ist nicht nur eine medizinische Behandlung, sondern ein ganzheitlicher Ansatz. Was bedeutet das?
Medizin, die ärztliche Tätigkeit, ist ein wichtiger Baustein. Nur ein Arzt darf Anordnungen für Medikamente und die konkrete Behandlung geben. Aber Medizin ist nicht der größte Teil der palliativen Betreuung. Es geht um menschliche Begleitung, Beratung, spezialisierte Pflege, das Abstimmen der Medikamente, Therapien. Das ist ein ganzes Netzwerk von verschiedenen Unterstützungsdiensten. Palliative Betreuung sorgt dafür, dass der Patient als ganzer Mensch begleitet wird, Seelsorge inklusive. Da können auch Krankensalbung, Taufe, Abendmahl dazu gehören.
Welche seelsorgerischen Themen begegnen Ihnen am Ende eines Menschenlebens?
Ich bin hier in einer katholischen Gegend tätig, da möchten viele Patienten auch die Sterbesakramente bekommen, die Krankensalbung oder noch einmal eine Kommunion. Selbst Menschen, die nicht viel mit der Kirche zu tun hatten, wünschen das. Dafür kann ich auf ein Netzwerk von Geistlichen und Seelsorgern zurückgreifen.
Ein wichtiges Thema ist auch Vergebung und Versöhnung, dass man zum Beispiel ein Familienmitglied herbeiholt, mit dem der Patient einen ungelösten Konflikt hatte. Solche Auseinandersetzungen in der Familie können bis ans Ende furchtbar belastend sein für alle Beteiligten. Aber wenn das jemand nicht möchte, dränge ich auch nicht dazu. Für mich ist handlungsleitend, was der Patient möchte.
Wie gehen Sie dann damit um, wenn ein Patient sterben möchte?
Kürzlich erhielt ich einen Anruf von Angehörigen einer hochgradig gelähmten Patientin. Sie wollte sich das Leben nehmen. Ich habe sie dann über die Rechtslage in Deutschland aufgeklärt, auch zu den möglichen Methoden. Man braucht dafür keinen Arzt, Selbsttötung ist erlaubt, auch die Hilfe dazu.
Ich unterstütze das nicht in der Form, dass ich assistiere oder etwas besorge. Aber wenn sich jemand in Not an mich wendet, informiere ich darüber. Man muss nicht in die Schweiz fahren und mehrere tausend Euro ausgeben, um sich das Leben zu nehmen. Das zu erfahren, ist für viele entlastend. Oft frage ich dann im Nachhinein bei den Angehörigen nach, wie es ausgegangen ist.
Was tun Sie, wenn Ihr eigener Patient wünscht, sich das Leben zu nehmen?
Wenn ein Patient, den ich schon lange begleite und von dem ich weiß, wie es um ihn steht, diesen Wunsch hat, kläre ich ihn genauso auf. Und wenn ich sehe, da gibt es ein Problem, habe ich in Einzelfällen bei eigenen Patienten schon gesagt: Ich helfe Ihnen – das besteht dann aber wahrscheinlich nicht darin, die Medikamente zu besorgen, sondern dann muss ich Sie töten.
Denn wenn ich Beihilfe leiste, muss ich auch beim Vollzug dabei sein und, wenn etwas schief geht, den Tod herbeiführen. In den Niederlanden ist das die Rechtslage. Das sehe ich aber auch hier als meine Pflicht als Arzt. Die Umsetzung ist aber zum Glück noch nie vorgekommen und ich hoffe, das wird es auch nicht.
Aber Sie würden es tun?
Bei meinen eigenen Patienten in extremen Einzelfällen ja – wenn auch sehr ungern. Es ist verboten und dann müsste ich wohl auch Konsequenzen tragen.
Sie würden Ihren Patienten nicht vom Suizid abbringen?
Doch, natürlich. Ich zeige Alternativen auf, erkläre, wie man Leiden vermindern kann, frage nach den Ursachen des Suizidwunsches. Aber wenn es einfach der Lebensüberdruss ist, dann kann ich nicht viel machen, außer mich vielleicht um den Aufbau eines sozialen Umfelds für den Patienten bemühen. Aber das ist eigentlich keine ärztliche Aufgabe.
Es gibt auch schwere Krankheiten, die nicht zum Tode führen und trotzdem einen hohen Leidensdruck erzeugen, der in einem Sterbewunsch münden kann. Was können andere medizinische Fachrichtungen vom palliativen Ansatz lernen, um Leiden zu mindern?
Da sein, ein soziales Netzwerk aufbauen, Beziehungen schaffen – das ist grundsätzlich wichtig, um mit Leiden umzugehen. Und natürlich der seelsorgerisch-spirituelle Ansatz. Denn es geht in solchen Situationen ja um Themen wie Verbitterung, den Sinn des Lebens, die Frage, „Warum leide ich?“. Dafür gibt es im Gesundheitsbereich leider kaum Strukturen.
In diesem Jahr wird der Bundestag über eine neue gesetzliche Regelung zur Sterbehilfe abstimmen …
Den Begriff „Sterbehilfe“ benutze ich höchstens in Anführungszeichen und weise darauf hin, dass man ihn nicht verwenden sollte. Wenn Sie ihn benutzen, unterwerfen Sie sich dem allgegenwärtigen Framing der Bewegung, die das Recht auf selbstbestimmtes Sterben propagiert.
Sprache bildet Meinung. „Wer kann denn gegen Sterbehilfe sein? Wollen Sie etwa diese Hilfe verweigern?“ Gemeint ist Tötungshilfe oder Hilfe zur Selbsttötung. Aber auf keinen Fall geht es um Sterbehilfe, auch wenn das immer gesagt wird. Sterbehilfe im eigentlichen und positiven Sinne leisten Angehörige und auch wir Palliativfachleute: begleiten, lindern, sich um den Menschen kümmern.
Danke für den Hinweis! Was erwarten Sie sich vom Gesetzgeber zur Regelung von assistiertem Suizid?
Nichts Gutes.
Können Sie das bitte genauer erklären?
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der Gesetzgeber Suizide und Suizidbeihilfe nicht behindern darf. Er kann eine Regelung schaffen, aber darf assistierten Suizid nicht verbieten. Wenn wir aber Bedingungen festlegen, unter denen Suizidbeihilfe erlaubt ist, werden diese Regeln schnell aufgeweicht werden. Sie werden Ausnahmen provozieren und das wird dazu führen, dass wir in ein paar Jahren Tötung auf Verlangen haben und etwas später auch die Tötung ohne Verlangen. Da bin ich mir völlig sicher.
Es wäre aus medizinischer und aus ethischer Sicht besser gewesen, das Bundesverfassungsgericht hätte das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe nicht aufgehoben. Als Christ sehe ich das auch so. Aber das ist keine exklusiv christliche Haltung.
Im Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht das Verbot der „geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ aufgehoben. Das war im Paragrafen 217 des Strafgesetzbuches festgehalten. Das Gericht befand jedoch, dass dies das verfassungsmäßige Recht auf Selbstbestimmung – auch über das eigene Sterben – zu stark einschränke. Aktuell liegen drei Gesetzesvorschläge für eine Neuregelung vor. Die Parlamentarier, die hinter den beiden liberalen Entwürfen stehen, wollen sich zusammentun, um eine Mehrheit im Bundestag zu erhalten. Der dritte Entwurf will die Regelung zum assistierten Suizid im Strafgesetzbuch verankern und ihn nur in engen Grenzen erlauben. Damit verbunden ist auch ein Antrag, die Prävention von Selbsttötungen zu stärken. Eine Entscheidung darüber ist in diesem Jahr zu erwarten.
Was erwarten Sie von den Kirchen, wie die sich in die Debatte einbringen?
Sie sollten mehr sachlich argumentieren und weniger von Gott und der Bibel her. Natürlich dürfen wir uns als Christen auch religiös in die Debatte einmischen, aber dann werden wir nur von religiösen Menschen gehört. Warum sollte ein Agnostiker oder Atheist darauf hören, dass das Leben von Gott geschenkt ist? Wenn die Kirchen die medizinischen, philosophischen, sozialen Fakten besser vermitteln würden, hätten wir viel bessere Argumente für die Diskussion.
Vielen Dank für das Gespräch!
Eine Antwort
Danke für das sehr informative Interview!!!!