Der Dichter Bob Dylan im Land der Denker: Schade und bezeichnend, dass die deutsche Version des Buches ein ziemlich schnarchiges Cover hat: das Autorengesicht in Großaufnahme, ernst dreinblickend, schwarz-weiß. Der Titel klingt ebenfalls so ernsthaft, dass man fürchten muss, intellektuelle Texte auf Heidegger-Niveau präsentiert zu bekommen: „Die Philosophie des modernen Songs“.
Alle Leichtigkeit und Ironie der US-Originalausgabe ist dahin: Darauf ist das Musikertrio Little Richard, Alis Lesley und Eddie Cochran zu sehen, Stars der 50er-Jahre mit Gitarre und schmalzigem Lächeln, der Schriftzug des Buchtitels kommt in Rot daher, das knallt. Und passt zum Inhalt des Buches.
Denn der ist so klug und schräg, wie nur Bob Dylan schreiben kann. Wieder enttäuscht er die Erwartungen seines Publikums – diesmal mit einem wohlbedachten Etikettenschwindel. Denn weder beschäftigt er sich in philosophischen Höhenflügen mit Musik noch präsentiert er (bis auf wenige Ausnahmen) bekannte Songs, erst recht keinen modernen.
Stattdessen manövriert er seine Leser zurück in die 50er, 60er und 70er Jahre in den USA. Jene Zeit, in der Musiker aus Spirituals und Folkmusik neue Stile entwickelte: Blues, Gospel, Swing, Country-Music, Rock’n‘Roll. Eine Zeit, in der auch der christliche Glaube noch ein unhinterfragtes Fundament war, in der fromme Männer und Frauen mit der Gitarre Songs von Sehnsucht und Liebe sangen, die gleichzeitig heimelige Lagerfeuerromantik und rebellische Aufbruchsstimmung aufkommen ließen. Dylan entführt uns in die Zeit der „old time religion“, als alles vermeintlich noch geordneter, anständiger und frömmer war.
Das Thema Glaube schlängelt sich wie ein dicker roter Faden durch die 66 Song-Kapitel. Es wird deutlich: Bob Dylan, als Robert Allen Zimmerman jüdisch aufgewachsen, kennt die Geschichten der Thora wie die des Evangeliums. In seine Songs ließ er Hunderte biblische Motive einfließen.
In religiöser Hinsicht ist auch Dylans Buch eine Hommage an die spirituelle Macht der Liebe, der Musik und des Glaubens. Dylan bedauert, dass sich Menschen von Gott abwenden, „weil Religion in ihrem Leben keine Rolle mehr spielt. Sie wird als etwas dargestellt, das man mühsam aufsuchen muss – es ist Sonntag, wir müssen in die Kirche. Oder politische Spinner aus allen möglichen Ecken verwenden sie als Drohwerkzeug, um ihren Argumenten Nachdruck zu verleihen.“
Früher dagegen, so erinnert er sich, „war Religion im Wasser, das wir getrunken haben, sie lag in der Luft, die wir geatmet haben. Fromme Lieder waren genauso ergreifend wie solche über die Fleischeslust – tatsächlich bildeten sie deren Grundlage. Wunder warfen ein Licht auf menschliches Verhalten und waren nicht nur Spektakel.“
Dylan wettert gegen den Mainstream in den Kirchen wie in der Musik. „Die gesäuberten Versionen des wahren Lebens“ würden in der Musikbranche gefeiert – auf Kosten der Dramatik des Lebens, zu dem auch Tiefpunkte gehören: „Ohne die dynamische Anspannung, die aus dem schlechten Gewissen nach dem Saufgelage entsteht“, verkomme etwa Country-Music „entweder zur freudlosen Proselytenmacherei oder zur hirnlosen Grölmusik“.
Eines kann Dylan nicht: Oberflächlichkeit
In abgeklärter Weise kommentiert Dylan anhand Elvis Presleys Schicksal, in welche Sackgassen fehlgeleiteter Glaube an irdische Freuden wie Sex und Geld führt. Las Vegas habe „wie ein Vampir seine schlimmsten Angewohnheiten und Impulse verstärkt“. Auch hinter die Fassade vermeintlich frommer Songs blickt Dylan, zum Beispiel hinter die des Liedes „My Prayer“ von „The Platters“. Da werde ja nur für „lips close to mine“ gebetet, unkt er und meint ganz selbstverständlich: „Der tollste Prayer-Song von allen ist natürlich das Vaterunser, ‚The Lords Prayer‘.“
Dann wieder schreibt er eine Meditation, die sich fast wie ein autobiografisches Psalmgebet liest: „Wir müssen uns alle der Liebe ergeben“, die „bis in die letzten Winkel der Erde“ verbreitet werden soll, das sei unser Auftrag. Dabei dürfe aber nicht vergessen werden: Die weiße, Hoffnung weckende Wolke am Himmel kann sich „jederzeit in einen tosenden schwarzen Nebel verwandeln, der sich über die gesamte Welt legt … Du wirst darüber nachdenken müssen.“ Schwarz und Weiß, Trauer und Freude, der liebe und der unberechenbare, auch zornige Gott: Dylan hat die Gegensätze des Lebens selbst durchlitten.
Mit der Weisheit seiner 81 Lebensjahre versucht er nun die Welt zu deuten. Deshalb gehen seine mitunter kryptischen Passagen unter die Haut. Eines kann Dylan nun mal nicht: Oberflächlichkeit. Folgerichtig nennt er das Buch Hiob eines „der aufregendsten und inspirierendsten des Alten oder Neuen Testaments“. Und räumt Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion einen gebührenden Platz ein.
Diese Tiefe ist es, weshalb sogar seine Kritik an Oberschlauen nicht arrogant, sondern nachvollziehbar daherkommt. Fast mitleidig geht er die „selbsternannten Sozialkritiker“ an, „die mit todernster Stimme Texte lesen, um deren mangelnde Tiefgründigkeit lächerlich zu machen“ – sie würden „nur ihre eigene Beschränktheit“ demonstrieren. Sie sezieren Musik und Texte nach allen Regeln der Wissenschaft – übersehen dabei aber „die Magie, die sich ereignet, wenn sich ein Text mit Musik verbindet“. Das „Herz des Songs“ sei mit solchen Methoden nicht zu finden.
Diese Reflexion über das Wesen der Musik ist wohl das Herzstück des Buches: „Man kann weiterhin aus der Musik eine Wissenschaft machen wollen, aber in der Wissenschaft wird eins und eins immer zwei ergeben. Musik dagegen erklärt uns, wie alle Kunst, auch die Kunst der Liebe, dass eins plus eins unter optimalen Bedingungen drei ist.“ Ergänzen ließe sich, wohl im Sinne Dylans: auch die Kunst des Glaubens.
Dylans Geheimbotschaft
Den Glauben vertrat Dylan in seinen „Gospeljahren“ (1978 bis 1981) überraschenderweise mit dem Übereifer eines christlichen Endzeit-Predigers. Inzwischen ist es für ihn jedoch keine Option mehr, mit apokalyptischen Bildern Angst zu schüren: Denn „Menschen zu helfen, etwas in ihr Leben einzupassen, ist viel effektiver, als es ihnen in die Gurgel zu rammen.“ Dylan hat seine Lektion gelernt. Übereifrige Mission ist einer melancholischen poetischen Spiritualität auf dem Fundament einer gehörigen Portion Lebensweisheit gewichen. Die Frage „Christ oder Jude?“ wirkt angesichts seiner spirituellen Weite geradezu kleingeistig.
Vielleicht erlaubt ein bislang von den Feuilletonisten und Dylanologen unbemerktes Detail seines Buches aber dennoch Aufschluss. Warum behandelt Dylan ausgerechnet 66 Songs? Vielleicht, weil die Bibel ebenso viele Bücher enthält?! Gut möglich, dass sich in der Zahl ein augenzwinkerndes Bekenntnis zur jüdischen wie christlichen Bibel verbirgt, eine dylaneske Hommage an das Buch der Bücher.
Wer dieser Idee nachgeht, findet bemerkenswerte Hinweise. Die Bandbreite der literarischen Formen, die Dylan verarbeitet, reicht von Geschichten über Heilige und Sünder hin zu gebetsartigen Passagen; Belehrungen, Moral und zeitlose Lebensweisheiten finden sich und sogar ziemlich langweilige Listen, die den Geschlechtsregistern in den ersten Büchern Mose ähneln.
Ein jüdischer Rezensent entdeckt sogar „talmudische Kommentare“. So gesehen könnte auch der Anfang, den Dylan für sein Buch gewählt hat, ein Programm sein: Eine berückend formulierte, moderne Version des Gleichnisses vom verlorenen Sohn: „Du willst nach Hause, wo man dich in die Arme schließen und aufnehmen wird. Niemand wird eine Erklärung von Dir verlangen … Du gehst dorthin zurück, wo du Ordnung in dein Leben bringen kannst, zurück zu verständnisvollen Menschen. Denen, die dich am besten kennen.“ Irgendwie ist Dylan doch noch Missionar. Missionar eines weiten, tröstlichen Glaubens daran, dass wir gut aufgehoben sind und getröstet werden. Um uns selbst und die Welt zu verstehen, ist Musik ein ideales Mittel – wenn wir sie nicht zerreden, sondern ins Herz lassen.
Bob Dylan: „Die Philosophie des modernen Songs“, Verlag C. H. Beck, 352 S., durchgängig farbig bebildert, München 2022, 35 Euro, ISBN 978-3-406-79284-7. Hörbuch gelesen von Wolfgang Niedecken, 7 Stunden 33 Minuten; 21, 95 Euro, ISBN 978-3-406-79388-2
Von: Uwe Birnstein
Eine Antwort
Auch als Hörbuch z.B. bei Audible
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