Die Lüge kommt in der Welt oft besser an als die Wahrheit. Oder um es mit einer Volksweisheit zu sagen: Das Volk will belogen werden. Die Bibel spricht über 160 Mal von Wahrheit und von der „Liebe zur Wahrheit“. Jesus selbst sagte von sich selbst sogar, dass er der Weg, die Wahrheit und das Leben sei. Die Bibel spricht aber auch von der Lüge und dass ihr Vater der Teufel ist (Johannes 8,44). Warum ziehen wir Menschen dann die Lüge so oft der Wahrheit vor?
Nun, die Verfilmung des Buches „Tausend Zeilen Lüge“ über den Spiegel-Fälscher Claas Relotius handelt keineswegs von biblischen Weisheiten oder gar theologischen Gedankenspielen. Aber sie führt auf meisterliche Weise vor Augen: Die Wahrheit ist fast immer unangenehmer ist als die Lüge. Und wir müssen uns immer wieder entscheiden, ob wir die unangenehme Wahrheit oder die angenehme Lüge wollen. Und das trifft auch beim Journalismus zu.
Als der Relotius-Skandal öffentlich wurde, brachen gleich mehrere Welten zusammen. Der Spiegel, „Europas größtes Nachrichtenmagazin“, verlor fast über Nacht das Wichtigste, das es im Journalismus gibt: Glaubwürdigkeit. Und natürlich brach für den vielfach ausgezeichneten Journalisten Claas Relotius alles weg, was ihn bis dahin ausmachte. Relotius war viermal mit dem deutschen Reporterpreis geehrt worden, von CNN bekam er als erster europäischer Journalist überhaupt die Auszeichnung „Journalist des Jahres“, da war er gerade mal 32. Eine glänzende Karriere im deutschen Journalismus stand ihm offen. Doch dann das: Ein mutiger Journalist aus der zweiten Reihe wagte es, an dem tadellosen Image des Vorzeige-Reporters zu kratzen, und zum Vorschein kam ein gigantisches Lügengebäude, das dem Hamburger Magazin viel Prestige und Geld eingebracht hatte. Rund 60 Artikel, die Relotius in mehreren Jahren geschrieben hat, hatte er sich ausgedacht. Und doch kamen sie fantastisch beim Leser und bei seinen Chefs an.
David- gegen-Goliath-Erzählung um größten Medienskandal seit den Hitler-Tagebüchern
Wer das Buch las, wünschte sich, es möge bald verfilmt werden. So spannend liest sich dieser Journalismus-Thriller um wahre Begebenheiten. Und so erschreckend das Ausmaß des Betrugs auch war, ein bisschen lustig ist die Geschichte ja auch. Da ist Michael Bully Herbig vielleicht genau der Richtige für eine Verfilmung. Durch Komödien wie „Der Schuh des Manitu“ und „(T)Raumschiff Surprise“ schuf er zwei der erfolgreichsten deutschen Kinofilme überhaupt, mit „Ballon“ über die Flucht zweier Familien aus der DDR, zeigte er, dass er auch ernste Themen kann. Nun zeigt Herbig mit „Tausend Zeilen“, der am 29. September in die Kinos kommt, dass er Ernstes lustig kann.
Einen Glücksgriff machte Bully dabei nicht nur in den Hauptrollen, mit Elyas M’Barek als Juan Moreno (der hier Juan Romero heißt), sowie Jonas Nay als Claas Relotius (der hier Lars Bogenius heißt). Auch in den Nebenrollen begeistern Michael Maertens als Ressortleiter Rainer M. Habicht und Jörg Hartmann als stellvertretender Chefredakteur Christian Eichner. Auch ihre Namen sind frei erfunden, ebenso wie der Name des Magazins: „Chronik“, eine Anspielung an den „Spiegel“.
„Frei nach einem der größten Skandale der jüngeren Mediengeschichte“ sei „Tausend Zeilen“ angelegt, heißt es in der Filmankündigung, „eine ebenso packende wie unterhaltsame David-gegen-Goliath-Erzählung in Zeiten von Fake News und alternativen Fakten“. Es gehe in seinem Film „um die Lüge, um die Unwahrheit“, sagte Bully Herbig vorab der Presse. Und so spiele der Streifen immer wieder mit der dargestellten Wahrheit und der nicht dargestellten tatsächlichen Wahrheit. „Die Wahrheit. Sonst nichts“ lautet das Motto der fiktiven Zeitschrift; beim Spiegel lautet sie „Keine Angst vor der Wahrheit“ oder auch: „Sagen, was ist“.
Schnell wird klar: Während Bogenius am Pool liegt, am Laptop seine Storys erfindet und per Telefon seiner Chefredaktion das Blaue vom Himmel verspricht, macht Juan Romero in der sengenden Hitze von Mexiko die eigentliche dreckige Arbeit. Man müsse auch als Zuschauer diesen Bogenius mögen, sagte Bully Herbig vorab der Presse, sonst funktioniere die Geschichte nicht. Im echten Leben fielen so ja auch viele auf seinen Charme herein.
Das ist dann auch vielleicht das einzige, das in diesem Film nicht gut funktioniert, man mag diesen eiskalten Lügner und leicht arroganten Journalisten von Anfang an nicht. Im echten Leben allerdings, so beschreibt es Moreno in seinem Buch, war es gerade die große Beliebtheit des sympathischen Journalisten Relotius, die es umso schwerer machte, ihn des Betrugs anzuklagen.
Auch das berühmte Fakten-Center des Spiegel, die „Dokumentation“ wird im Film erwähnt, eigentlich der Wachhund in Europas größtem Nachrichtenmagazin, hier sollte jede Lüge eigentlich abgeschmettert werden. Es sei denn, man füttert den Wachhund mit Leckerli. Und genau das macht Bogenius. Noch während er zynisch von der Dokumentation als dem „natürlichen Feind des Journalisten“ palavert, macht er sich den Dokumentar mit Süßigkeiten gefügig.
„Weniger Uli Wickert, mehr Quentin Tarantino“
Der Film „Tausend Zeilen“ hat mit dem Bully-Klamauk der Nuller-Jahre nicht mehr viel zu tun, und ist doch sehr unterhaltsam und witzig. Und geradezu meisterhaft legt er den Kern des Skandals frei: Bogenius kann mit seinen Lügengeschichten nur deswegen so erfolgreich sein, weil die Redaktionsleitung Dramatik über Authentizität stellt, die Auflage über die Wahrheit. Der Ressortleiter Habicht bringt das, was in seinem Magazin für eine „gute Schreibe“ gehalten wird, selbst so auf den Punkt: „Protagonist, Antagonist, ein Duell“. Wie in einem Western eben, oder: „Weniger Uli Wickert, mehr Quentin Tarantino“. Vielleicht eine Reminiszenz an das Buch „Der Ehrliche ist der Dumme“, das der Journalist Ulrich Wickert bereits 1996 schrieb, und das übrigens den Untertitel trug: „Über den Verlust der Werte“.
Als Bogenius zum Schluss auffliegt und das Kartenhaus in sich zusammenstürzt, spricht Bogenius – vielleicht das einzige Mal im Film – die volle Wahrheit aus. Im Magazin „Chronik“ könne man nicht irgendetwas Langweiliges schreiben. „Keiner will doch gesagt bekommen, dass die Realität anders ist, als man sie sich selbst vorstellt. Keiner will was Neues lesen. Die Leute wollen lesen, was sie eh schon wissen. Die Leute suchen doch in einem Text überhaupt nicht nach der Wahrheit, sie suchen nach Bestätigung. Du kaufst dir doch kein Magazin, das dir sagt, wie ahnungslos du bist, wie ignorant, wie blöde. Nein, du kaufst dir ein Magazin, das dir die Welt zeigt, wie du glaubst, dass sie ist.“ Gerade beim Amerika-Bild des Spiegel wurde diese Bestätigung von Vorurteilen über viele Jahrzehnte hinweg geradezu penetrant zelebriert.
Wenn das Buch schon Pflichtlektüre für jeden Journalisten und alle, die sich dafür interessieren, war, dann ist der Film erst recht eine dringende Empfehlung. Und am Ende ist es ja eine Frage, die uns alle betrifft: Wollen wir uns wirklich auf die (bequemere) Lüge einlassen, auch wenn wir es mit dem Vater der Lüge zu tun bekommen, oder den unbequemeren Weg beschreiten, der zumindest laut Bibel zur Wahrheit und am Ende zum Leben führt.
3 Antworten
Das eigentlich beunruhigend Skandalöse an dieser Geschichte ist m.E. weniger die zurecht gescheiterte Einzelperson Relotius, sondern das einseitig weltanschaulich geprägte mediale System, das eine solche Figur hervorbringt und legitimiert. Das sind nicht „die Leute“, die das Magazin kaufen, sondern jene, die das Magazin für die eigene Agenda missbrauchen.
Hallo, Culmmann, naja, es ist ja auch der Leser, der das „Duell“ zwischen Gut und Böse mag – und kauft. Hier „der Ami“, dort „der Mexikaner“ zum Beispiel. Bei Magazinen wie dem Spiegel wird er dann halt darin bestätigt. Wenn die Wahrheit anders ist, wendet sich der Leser ab. Das sollte meine Rezension auch ausdrücken.
„Keiner will doch gesagt bekommen, dass die Realität anders ist, als man sie sich selbst vorstellt. Keiner will was Neues lesen. Die Leute wollen lesen, was sie eh schon wissen.“ Nö, sehe ich anders. Ich will immer was Neues lesen, bin immer interessiert an dem, was ich noch nicht weiß.