Die vergangenen zwei Jahre haben ihre Spuren hinterlassen. Nicht nur in Politik und Gesellschaft, sondern natürlich auch in den Gemeinden. Gottesdienst-Livestreams, Einlasskontrollen, Abstandshalter in den Bank- und Stuhlreihen: Die Corona-Pandemie hat das Gemeindeleben beeinflusst wie nur Weniges zuvor.
Ein Sonntag nach dem anderen verging, und mit jedem Gottesdienst unter Pandemiebedingungen schwand die Gewissheit, dass Corona eine schnell vorübergehende Erscheinung sein würde.
Zwei Jahre später ist längst vieles wieder möglich, was lange selbstverständlich war. Doch fast alle Kirchengemeinden erfuhren ein ähnliches Phänomen: Zwar kam die Freiheit zurück – doch die Schäfchen blieben zuhause. Die Hoffnung, dass schon alles wieder werde wie früher, zerplatzte schnell. Mittlerweile befinden sich viele Kirchengemeinden in der Republik in einer Art Schwebezustand. Wie es weiter geht und ob die Menschen irgendwann wieder zurückkommen? Keiner weiß es. Und diese Unsicherheit belastet Pastoren und Gemeindeleitungen in besonderer Weise.
Daher dürfte es für die Willow-Teilnehmer wohltuend gewesen sein, dass ausgerechnet Michael Herbst die Eröffnungsrede hielt. Denn der Greifswalder Theologe kann als so eine Art Chefseelsorger für Gemeindeleiter gelten. Kaum einer versteht die Seele evangelikaler und pietistischer, vor allem missionarisch bewegter Verantwortlicher so gut wie der mittlerweile emeritierte Praktische Theologe.
Missbrauch ist „Gotteslästerung“
Seit 2005 spricht Herbst auf Willow-Kongressen. Heute beginnt er mit etwas, das nicht unbedingt typisch ist für solche Kongresse: Er schlägt einen großen Bogen über die vielen Krisen der vergangenen Jahre, vom Klima über Corona, vom Ukrainekonflikt bis zur Energiekrise. Die gesellschaftliche Analyse steht also vor jeder innerkirchlichen Selbstbeschäftigung. Als die dann kommt, beginnt sie mit Selbstkritik. Die Kirche habe Vertrauen verloren, zum Beispiel wegen der vielen Fälle sexualisierter Gewalt, die Herbst als „Gotteslästerung“ bezeichnete. Applaus.
Doch auch darüber hinaus mahnt der Theologe. In der Pandemie habe die Kirche sich kaum mehr hervorgetan, als die gut begründeten Hygiene-Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts umzusetzen und zu kommunizieren. Frühere Pandemien hätten die Menschen als „Heimsuchungen“ erkannt, und sie hätten Buß- und Bettage ausgerufen, weil sie darin eine Chance der Umkehr sahen. Demut statt Hochmut, klein anfangen statt hoch zu stapeln.
Und darum schien es Herbst vor allem zu gehen, als er fünf Punkte formulierte, die ein „Momentum“ in den Gemeinden auslösen könnten. Der Theologe empfahl:
- „Wir nehmen unsere Lage an als Platzanweisung Gottes.“
- „Wir suchen Gott im Gebet.“
- „Wir suchen Versöhnung und lernen lieben.“
- „Wir feiern aufs neue Gottes Evangelium.“
- „Wir wenden uns nach außen und verschanzen uns nicht im Inneren.“
Diese Punkte sind revolutionärer, als sie auf den ersten Blick wirken. Wenn Herbst von einer „Platzanweisung“ Gottes sprach, dann meinte er damit, dass sich die Kirche in Deutschland damit zunächst damit abfinden müsse, von vielen Menschen nicht mehr gebraucht zu werden. Und dass die Kirche nun mal eine „kleine Herde“ sei. Statt sich wegen theologischer Unterschiede auseinander zu dividieren, solle man sie stehen lassen können – und vergeben. Sicher hatte Herbst da auch die Spannungen im Umgang mit Homosexualität im Blick.
Vor allem plädierte er dafür, nach außen zu gehen. Die Kirchen sollten wieder neu ihren Platz finden, an dem sie gebraucht werden. Dann werde es auch mit dem Vertrauen wieder klappen. Herbst sprach vor deutlich kleinerem Kongress als bei früheren Willow-Kongressen. In Karlsruhe 2020 waren noch 7.500 Teilnehmer vor Ort gewesen, in Leipzig sind es nach Veranstalterangaben 3.670 Teilnehmer. Dazu zählen allerdings auch die größtenteils ehrenamtlichen Mitarbeiter sowie die Aussteller. Wie viele es sind, gaben die Veranstalter nicht an. Hinzu kommen noch 980 Teilnehmer, die den Kongress an acht weiteren Übertragungsorten verfolgen.