Nächstenliebe Ahoi

Wenn die Patienten nicht ins Krankenhaus kommen, kommt es eben zu ihnen: Das ist das Motto der christlichen Organisation Mercy Ships. Diese Woche weihte der senegalesische Präsident ihr neues Hospitalschiff ein.
Von Jörn Schumacher
Mercy Ships

Was an medizinischer Versorgung hierzulande selbstverständlich ist, fehlt in vielen afrikanischen Ländern, und das kann für die Menschen dort schnell lebensbedrohlich werden. Vor Ort ist oft kein Geld da für eine Operation und umfassende medizinische Versorgung. Wenn die Patienten nicht zum Krankenhaus kommen können, dann muss das Krankenhaus eben zu den Patienten kommen. Diese Idee steht seit über 40 Jahren hinter Mercy Ships, den größten Krankenhausschiffen der Welt.

Auf den Krankenhausschiffen von Mercy Ships behandeln Ärzte kostenlos die Ärmsten der Armen, ungeachtet von Herkunft, Geschlecht oder Religion. Damit folgen sie „dem Beispiel Jesu“, wie die Organisation betont. Das Motto, das alles antreibt, lautet: „Jeder Mensch ist wertvoll – jeder Mensch hat das Recht auf Gesundheit.“

Rund fünf Milliarden Menschen auf der Welt haben keinen direkten Zugang zu lebensnotwendigen Operationen, der Großteil von ihnen lebt in Entwicklungsländern südlich der Sahara. Mit ihrem Hospitalschiff „Africa Mercy“ bringt Mercy Ships medizinische Hilfe dorthin, wo sonst oftmals jede Hoffnung aussichtslos scheint. Und seit Kurzem steht ihr mit der „Global Mercy“ ein noch größeres, hochmodernes Krankenhaus-Schiff zur Seite.

Am Dienstag hat der senegalesische Präsident Macky Sall die „Global Mercy“ in Dakar, der Hauptstadt des Senegals, eingeweiht. Bei dem feierlichen Akt unterzeichneten Vertreter zahlreicher afrikanischer Staaten an Bord des Schiffes eine Erklärung: Vertreter aus Kamerun, den Komoren, der Republik Kongo, Gambia, Guinea-Bissau und Senegal verpflichten sich, den Zugang zu Chirurgie, Geburtshilfe und Anästhesie in ihren Ländern bis 2030 zu verbessern.

Taylor Perez, Kapitän der „Global Mercy“ (links), führt den Präsidenten Senegals Macky Sall (Mitte) und den Präsidenten von Guinea-Bissau, Umaro Mokhtar Sissoco Embalo, mit einer Delegation über das neue Krankenhausschiff

Im Vorfeld wurde im Rahmen einer groß angelegten Studie die Versorgungslage in der Chirurgie, Geburtshilfe und Anästhesie in 28 von 47 Ländern im südlichen Afrika gemessen. Die Studie sei die erste ihrer Art für Afrika, teilte Mercy Ships“ mit. Daraus sei eine „Roadmap“ entstanden, anhand derer die chirurgische Versorgung im südlichen Afrika bis 2030 ausgebaut werden solle. Die Organisation betonte, derzeit hätten 93 Prozent der Menschen des Kontinents keinen Zugang zu einem Chirurgen.

Ärzte verbringen ihren Jahresurlaub auf dem Schiff

Laut dem Lancet Global Surgery 2030 Report sterben jährlich schätzungsweise 16,9 Millionen Menschen an den Folgen fehlender chirurgischer Versorgung. Über 93 Prozent der Bevölkerung in den Ländern südlich der Sahara haben keinen Zugang zu rechtzeitigen und sicheren Operationen. An Bord eines Krankenhausschiffes der christlichen Hilfsorganisation aber können die Menschen kostenlos Hilfe auf den Gebieten Chirurgie, Zahnmedizin, Augenheilkunde und Orthopädie bekommen. Das autarke Schiff „Africa Mercy“ verfügt über die zuverlässige moderne Technologie eines Krankenhauses, sauberes Wasser und elektrische Versorgung zu jeder Zeit.

Global Mercy, Rotterdam, Mercy Ships Foto: Mercy Ships
Die „Global Mercy“ erreicht den Hafen von Rotterdam

An Bord erfahren die Menschen sowohl eine äußerliche und oftmals auch eine innerliche Heilung, berichten die Ärzte. Viele, die endlich von jahrelangem Leid geheilt wurden, würden gesund, schöpften neue Hoffnung und kehrten verändert in ihre Familien zurück. „Sie können etwas von der Zuwendung, die sie selbst an Bord erlebt haben, an andere weitergeben.“

„Alle Mitarbeiter auf dem Schiff tragen die Kosten für ihren Aufenthalt selbst, somit kommen alle Spenden direkt den Patienten zugute“, erklärt Udo Kronester, der seit zwölf Jahren Geschäftsführer von Mercy Ships Deutschland ist, gegenüber PRO. Manche Ärzte blieben monatelang, andere nur für zwei Wochen. „Viele verbringen ihren Jahresurlaub auf unserem Schiff“, sagt Kronester. „Oder sie hängen ihren Urlaub nach ihrem Einsatz hinten dran.“ Derzeit kämen die Mitarbeiter aus über 35 Ländern.

Ausgestoßene mit Missbildungen

Unbehandelt können chirurgische Erkrankungen, Verletzungen oder Fehlbildungen zu einem frühzeitigen Tod oder lebenslangen Behinderungen führen. Schätzungsweise 18 Millionen Menschen sterben jedes Jahr an Erkrankungen, die mithilfe einer Operation heilbar gewesen wären, teilt Mercy Ships mit. Die mangelhafte chirurgische Versorgung fordert so mehr Todesopfer als Tuberkulose, Malaria und Aids zusammen.

Ein Beispiel: In afrikanischen Familien wird häufig über offenem Feuer gekocht, dabei werden Wasser und Öl im Freien erhitzt. Bei Unfällen an diesen Feuerstellen verletzen sich Menschen oft schwer, sehr häufig sind auch Kinder betroffen. Narben und Verkürzung und Schrumpfung des Gewebes können die Folge sein.

Einen typischen Fall zeigen die Ärzte von „Mercy Ships“ am Beispiel eines Mädchens, das sich durch verschüttetes heißes Wasser schwere Brandverletzungen zuzog. Die Narben führten zu einer Versteifung der Arme, sie konnte sich nicht mehr richtig bewegen. Ihre Eltern versteckten sie im Hinterhof. In Guinea wurde das Mädchen an Bord der „Africa Mercy“ operiert, und heute kann sie höher greifen als jemals zuvor.

Ebenso sorgen Tumore dafür, dass Menschen in afrikanischen Ländern unnötig leiden und zudem von den Dorfgemeinschaften ausgestoßen werden, weil sie als „besessen“ gelten. Geschwulste hindern die Menschen an normalen Bewegungen und beim Arbeiten. Chirurgen von Mercy Ships entfernen Tumore operativ, was in westlichen Ländern eine Selbstverständlichkeit ist.

Säuglinge, die mit Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten geboren werden, sind häufig unterernährt, weil sie nicht richtig saugen und trinken können. Kinder, die dennoch überleben, werden auf Grund ihrer Missbildung oft ausgestoßen. Dabei kann ihnen mit westlicher medizinischer Versorgung bei Routineeingriffen geholfen werden.

Grauer Star ist außerhalb der Industrienationen die häufigste Ursache für vermeidbare Blindheit. Dabei könne das Augenlicht in einer 20-minütigen Operation wiederhergestellt werden, teilt Mercy Ships mit. Als Beispiel nennt die Organisation den Fall eines Mädchens namens Monique, das im Alter von neun Jahren erblindete. Drei Jahre lang versuchte ihre Mutter, genug Geld für eine Operation zu sparen. Doch bevor sie einen Kredit aufnehmen musste, legte die „Africa Mercy“ in Kamerun an, und in nur 20 Minuten konnte Monique operiert werden – und sie konnte wieder sehen.

Mercy Ships, Chirurgie, Arzt, Auge, Operation Foto: Mercy Ships
Innerhalb von 20 Minuten können Ärzte das Augenlicht wieder herstellen, wenn ein Patient am Grauen Star erkrankt ist

Von einem besonderen Fall berichten auch die Orthopäden, bei dem ein Junge mit ausgekugelten Knien und einem Zustand geboren wurde, der als „Quadrizeps-Kontraktur“ bekannt ist. Dabei sind die Beine drastisch nach hinten gebogen. Bei dem Jungen war die Fehlstellung so schlimm, dass selbst die erfahrensten Experten an Bord der „Africa Mercy“ entsetzt waren. Eine Operation war möglich, und seitdem läuft der Junge wieder ohne die Fehlbildungen.

Mindestens zehn Monate vor Anker

Der Einsatz des Schiffes werde Jahre zuvor geplant, erklärt Kronester, der selbst 1995 erstmals einen Einsatz auf einem Schiff leistete. Die Organisation nehme Kontakt mit der jeweiligen Regierung eines Landes auf und überlege auch mit anderen Hilfsorganisationen, wo ein Einsatz am meisten Sinn ergibt. Bevor das Schiff anlegt, reist dann ein Team durchs Land und kündigt den Einsatz des Hospitalschiffs an.

Wenn ein Schiff vor Anker liegt, ist es mindestens zehn Monate vor Ort im Dienst, damit auch in der Orthopädie die volle medizinische Versorgung mitsamt Physiotherapien gewährleistet ist. „Unser Ziel ist es, dass alle Patienten bei uns so entlassen werden, dass sie danach keine medizinische Betreuung mehr brauchen“, sagt Kronester.

Ein Problem für die Menschen im Inland seien die Transportkosten, um aus dem Land zum Schiff zu kommen, sagt der Leiter des deutschen Zweiges von „Mercy Ships“, der mit dem Spendensiegel der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA) ausgezeichnet ist. Manchmal helfe die Regierung bei der Finanzierung, aber auch hier seien die meisten Menschen auf die Spenden angewiesen. Ein Vorteil bei einem Krankenhaus auf einem Schiff sei übrigens: Im Falle einer politischen Krise oder gefährlichen Epidemien kann es jederzeit ablegen.

Die Vision kam nach einem Hurrikan

Bislang war die „Africa Mercy“, seit 2007 im Einsatz, das größte privat finanzierte Hospitalschiff der Welt. Eine ehemalige Eisenbahnfähre war 1999 dafür umgebaut worden. Dabei blickt Mercy Ships auf eine Geschichte mit mehreren Schiffen, auf denen Hilfsbedürftige schon geheilt wurden.

Das Werk geht zurück auf eine Idee des damals 19-Jährigen Amerikaners Don Stephens, der 1964 bei einem Einsatz des christlichen Missionswerks „Jugend mit einer Mission“ auf den Bahamas im Einsatz war und einen schlimmen Hurrikan miterlebte. Seine Vision: Ein Schiff mit Ärzten und Krankenschwestern, das nach einer solchen Katastrophe kommen würde, um zu helfen.

Im Jahr 1978 begann die Vision Wirklichkeit zu werden: Don kaufte ein 159 Meter langes ehemaliges Passagierschiff, das er in „Anastasis“ (griechisch für „Auferstehung“) umbenannte. Daraus wurde einige Jahre später das erste „Mercy Ships“-Hospitalschiff. Weitere folgten.

Seit Kurzem steht mit der „Global Mercy“ ein neues Schiff in den Startlöchern zu ihrem ersten Einsatz. Die Hilfsorganisation baute zum ersten Mal ein Krankenhausschiff nach eigenen Plänen von Grund auf neu. Es wird sich Ende Mai im Senegal zu ihrem Schwesterschiff „Africa Mercy“ gesellen, wo sie zunächst für die Ausbildung dienen soll.

Im Jahr 2023 wird sie auf ihre erste eigene Mission gehen. Das Einsatzland stehe noch nicht fest, sagt Kronester. Vorher hatte das moderne Schiff in Antwerpen und Rotterdam ihre Pforten für Gäste geöffnet. Unter anderem stattete die belgische Königin Mathilde der „Global Mercy“ einen Besuch ab, in Rotterdam war die Prinzessin Anne zu Gast, die Tochter der englischen Königin Elisabeth II., die seit 2021 Schirmherrin von Mercy Ships ist. Kurz vor der Abreise gab der italienische Starsänger Andrea Bocelli ein Konzert an Bord.

Prinzessin Anne, Global Mercy Foto: Mercy Ships
Die britische Prinzessin Anne besuchte die „Global Mercy“ im Hafen von Rotterdam

Die „Global Mercy“ ist 174 Meter lang und verfügt über zwölf Decks. An Bord befindet sich ein vollausgestattetes Krankenhaus mit sechs Operationssälen, Röntgen- und CT-Abteilung, 199 Patientenbetten, ein Auditorium, eine Schule, Fitnessräume, ein Schwimmbad, eine Bibliothek und ein Café. Sogar eine hochmoderne Ausbildungsstätte mit Virtual Reality-Simulationslabor für die postoperative Nachsorge gibt es an Bord.

Rund 200 Millionen US-Dollar kostete das Schiff, das in Finnland entworfen und in China gebaut wurde. Nun bietet es über 950 Menschen Platz. Die Crew besteht aus etwa 640 Personen, rund 200 davon arbeiten im Krankenhaus.

Eine prominente Unterstützerin der Hospital-Schiffe ist die deutsche Schauspielerin Wolke Hegenbarth, bekannt aus vielen Serien wie etwa „Die Camper“. Die Kölnerin erfuhr über Freundinnen, die auf dem Schiff einen Freiwilligendienst geleistet hatten, von der Arbeit und versuchte es daraufhin selbst. Sie half bei der Essensausgabe, berichtete die Schauspielerin in der Talksendung „Markus Lanz“. „Das kann ja jeder.“

Tief berührt von der Arbeit der ehrenamtlichen Mediziner, kam sie über Jahre hinweg immer wieder und half, wo sie konnte. Bei Lanz berichtete die Schauspielerin sichtlich gerührt von den Patienten und den Ärzten. „Ein Chefarzt ist seit 30 Jahren als Chirurg ehrenamtlich auf dem Schiff“, sagte Hegenbarth. „Er lebt nur von Spenden. Es gibt Menschen, die haben eine Berufung und stellen sie in den Dienst der Schwächsten.“

„Es ist uns wichtig, dass wir ein christliches Werk sind“, betont Kronester. „Man muss nicht Christ sein, wenn man an Bord helfen will“, sagt er. Aber selbstverständlich sollte man mit der christlichen Kommunität klar kommen. Es gebe zwei Mal in der Woche einen Gottesdienst an Bord, zudem hätten die einzelnen Abteilungen jeden Morgen eine kleine Andacht. Für ihn liegt der Wert seiner Arbeit auf der Hand.

„Afrika ist der am schlechtesten medizinisch versorgte Kontinent von allen.“ Daher konzentriere sich die Arbeit bislang auf die Länder dieses Kontinents. „Aber es ist nicht auszuschließen, dass Schiffe auch irgendwann einmal woanders im Einsatz sind.“ Mit der neuen „Global Mercy“ wird das Werk nun fortgesetzt, das mit der Idee eines Studenten begann.

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