Am 23. Mai 1618 widersetzten sich protestantische Adelige in Prag dem katholischen Kaiser, der nicht willens war, dem protestantischen Glauben im Heiligen Römischen Reich die gleichen Rechte zu gewähren wie dem katholischen. Sie warfen die Statthalter von Kaiser Ferdinand II. aus dem Fenster der Prager Burg und lösten damit einen Krieg aus, der sich tief ins Gedächtnis Europas gebrannt hat. Nach und nach versanken immer mehr Länder in einem Strudel aus Gewalt, Hunger und Seuchen; ein Drittel der Bevölkerung fand den Tod, das Land benötigte Jahrzehnte, um sich von den Folgen zu erholen. Daher ist es wichtig, sich gerade in diesem Jahr des 400. Jahrestages an diesen schrecklichen europäischen Krieg zu erinnern, und umso willkommener ist da ein Buch wie das des Geschichtsexperten Herfried Münkler, das streckenweise so spannend ist wie ein Krimi.
Wer einen Überblick über den doch sehr komplexen Dreißigjährigen Krieg bekommen will und gleichzeitig die Möglichkeit, Details bis hinein zu einzelnen Schlachten zu verstehen, ist mit dem Buch „Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648“, das bei Rowohlt erschienen ist, goldrichtig. Allerdings ist bei einer Gesamtlänge von 976 Seiten Durchhaltevermögen oder große geschichtliche Neugier vonnöten.
Wer einmal in die Zeit des Krieges und in Münklers leicht zu verstehende Beschreibungen eingetaucht ist, lernt viel über die Geschichte Deutschlands und Europas. Doch gerade wer die kirchenhistorischen Probleme zwischen Katholischer und Protestantischer Kirche verstehen möchte, erkennt bei der Lektüre des Buches Zusammenhänge, deren Nachwirkungen auch heute noch sichtbar sind. Münkler versteht es, treffsicher genau jene Fragen, die beim Lesen aufkommen, als nächstes zu beantworten. Wer sich für die vielen Details einzelner Schlachten dann doch weniger interessiert, kann diese ja getrost überfliegen.
Gott auf beiden Seiten?
Zur Übersicht könnte man den Dreißigjährigen Krieg grob in drei Abschnitte einteilen: Da ist zunächst der erfolgreiche Eroberungszug der katholischen Liga unter den Feldherren Albrecht von Wallenstein und Graf von Tilly, der die protestantischen Heere bis an die norddeutsche Küste drängt. Es folgt der Kriegseintritt des schwedischen protestantischen Königs Gustav II. Adolf, der das Kernland Europas nicht komplett rekatholisiert sehen wollte und wohl auch eine Chance sah, seinen Einfluss im Ostseeraum gegenüber Dänemark auszubauen. Der „Löwe aus dem Norden“ wurde von den zunächst vernichtend geschlagenen Protestanten in Deutschland geradezu als Erlöser angesehen, von Gott persönlich geschickt. Nach dem Tod Gustav Adolfs in der Schlacht bei Lützen 1632 kam der erfolgreiche Wiedereroberungsfeldzug der protestantischen Seite bald zum Erliegen. Es folgten Jahre kleinerer Schlachten, die, so Münkler, eher „irgendwann und irgendwie“ zu Ende gingen als nach einem bestimmten Ereignis an einem bestimmten Tag.
Münkler, eigentlich Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität, und – trotzdem – regelmäßig Bestsellerautor von Standardwerken vor allem für Historiker (etwa über Niccolò Machiavelli, Thomas Hobbes, oder mit „Der Große Krieg“ über den Ersten Weltkrieg) streift bei aller militärischer Expertise auch immer wieder den eigentlichen Hintergrund dieses komplexen, langen und brutalen Krieges: die christliche Religion.
Der schwedische König Gustav Adolf etwa sah sich sehr wohl auch als überzeugter Protestant, der Deutschland vom Katholizismus und der „Abgötterei des Papsttums“ befreien wollte. Ebenso waren ihrerseits viele Heerführer der katholischen Liga fest überzeugt, im Dienste der Kirche und ihres christlichen Glaubens zu stehen. Das Abschlachten von Zivilisten, das regelmäßig vor allem bei den Eroberungen von Städten vorkam, nahmen viele Heerführer dabei in Kauf. Denn nur durch das Plündern, die „Kontributionen“, die sich die zahlreichen Söldner laut Kriegsrecht von den Bauern, Dörfern und Stadtbewohnern anstatt eines Solds nehmen durften, wurde die Kriegsmaschinerie am Leben gehalten, mit verheerenden Folgen für die Bevölkerung.
Gottvertrauen trotz unendlichen Leids
Der Autor ruft ins Gedächtnis, wie sehr die Menschen zur damaligen Zeit trotz allen Leids auf Gott vertrauten. Im Lied „Threnen des Vaterlandes“ beschrieb der Dichter Andreas Gryphius im Jahr 1632 etwa die Schande, die der jahrelange Krieg in Deutschland hinterlassen hatte. Er stellt aber zum Schluss fest: „Was grimmer den die pest / vndt glutt vndt hungers noth Das nun der Selen schatz / so vielen abgezwungen“. Münkler erklärt: „Damit macht er geltend, dass es in seiner Sicht noch etwas Schlimmeres gibt als Gewalt und Elend, Not und Tod: Durch den Zwang zum Glaubenswechsel oder zum geheuchelten Bekenntnis wird das Seelenheil verspielt.“
Der evangelische Pfarrer Paul Gerhardt habe in seinem bekannten „Sommer-Gesang“ („Geh aus mein Herz, und suche Freud“) eine Antwort „auf die apokalyptischen Ängste des Andreas Gryphius und vieler anderer Zeitgenossen“ gegeben, schreibt Münkler. „Gerhardt setzte den Bildern des Krieges also nicht nur idyllische Natur entgegen, sondern auch ein Gottvertrauen, das der Krieg bei vielen zerstört hatte: Einem Gott, der solches zuließ, konnte man nicht vertrauen, und wenn es keinen Gott gab, dem man vertrauen konnte, dann gab es wahrscheinlich überhaupt keinen Gott. Das Wiederaufleben der Natur ist Paul Gerhardts Zeugnis wider solches Verzweifeln.“
Der Westfälische Frieden schließlich, in zähen, scheinbar endlosen Verhandlungen in Osnabrück und Münster errungen, machte vor allem das spanische katholische Königshaus zu einem der großen Verlierer des Krieges. Für die Protestanten indes bedeutete das „cuius regio, eius religio“ fortan, dass ein Konfessionswechsel des Landesherrn nicht mehr die Zwangsbekehrung der Landeskinder nach sich zog. Münkler stellt zusammenfassend fest: „Deutschland wurde zum Vorreiter einer – freilich auf die christlichen Bekenntnisse beschränkten – Religionsfreiheit in Europa.“
Gefährliche Verbindungen aus Religion und Politik auch heute
Wertvoll ist Münklers Einordnung des Krieges im letzten Kapitel, wo er die Frage behandelt, was man aus dem Dreißigjährigen Krieg für heute lernen kann. Die Formen der Kriegführung dieses Krieges seien „im großen Stil in die Praxis der Kriege zurückgekehrt“, etwa was die Gewalt gegen die zivile Bevölkerung angeht. Die Beschäftigung mit dem Dreißigjährigen Krieg eröffne die Möglichkeit, in aktuellen Konflikten „Eskalationsdynamiken“ und „mögliche Stoppmechanismen“ zu erkennen, schreibt Münkler. Religion und Politik seien auch heute in vielen Ländern „Verbindungen eingegangen, die Gewalt befördern“.
Der Politikwissenschaftler ist überzeugt, unter Vorbehalt könne man etwa auch die Haltung auswärtiger Mächte miteinander vergleichen, die Länder Spanien, Frankreich, England damals mit den USA, der EU und Russland heute. Wann ist es richtig, in einen Konflikt einzugreifen? Wann macht man sich schuldig, wenn man nicht eingreift?
Auch die „Entstehung großer Flüchtlingsbewegungen, die teilweise auf systematische Vertreibungen zurückgehen, mit denen bestimmte Gebiete religiös vereinheitlicht werden sollen“, begegnen einem sowohl im Krieg vor 400 Jahren als auch heute. In diesem Lichte betrachtet, kann man daher vielleicht tatsächlich auf einen „Westfälischen Frieden“ im Nahen Osten hoffen.
Herfried Münkler: „Der Dreißigjährige Krieg“, Rowohlt, 976 Seiten, 39,95 Euro, ISBN 9783871348136
von: Jörn Schumacher