30 Jahre Gladbeck: Geiselnehmer als Medienstars

Vor 30 Jahren ereignete sich das Geiseldrama von Gladbeck. Die Medien entwickelten eine ungeahnte Sensationsgier und machten schlimme Fehler. Christoph Irion, Geschäftsführer des Christlichen Medienverbundes KEP, war damals als junger Journalist beim NDR und erlebte das Verbrechen als Zeitzeuge. Er ordnet die wichtigsten Fragen zum damaligen Fehlverhalten der Medien ein.
Von PRO
Gedenkstätte für eines der Opfer Silke Bischoff: An der Autobahn A3 bei Aegidienberg, dem Ort des Zugriffs, wurde neben der vom Landesbetrieb Straßenbau in Bonn gepflanzten Linde im August 2009 eine von dem Bildhauer Franz Hämmerle gestaltete Stele aufgestellt. Die Skulptur aus Stahl hat 62 Einschusslöcher – genauso viele, wie der Fluchtwagen der Geiselnehmer nach dem Zugriff des Kölner SEK am 18. August 1988.

Was ist beim Geiseldrama von Gladbeck passiert?

Vor genau 30 Jahren erlebte Deutschland einen der spektakulärsten Kriminalfälle. Am Morgen des 16. August 1988 stürmten Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner schwer bewaffnet eine Bank in Gladbeck. Sie nahmen zwei Geiseln, forderten einen Fluchtwagen und 420.000 D-Mark. Journalisten gaben sie ein erstes Interview. Am nächsten Tag kaperten sie zusammen mit Rösners Freundin in Bremen einen Linienbus und nahmen 32 Geiseln. Sie gaben Interviews und ließen mehrere Geiseln frei. Als die Polizei Rösners Freundin vorübergehend festhielt, erschoss Degowski eine Geisel. Bei der weiteren Verfolgung verunglückte ein Polizist tödlich. Die Geiselnehmer ließen den Bus stehen und flüchteten mit zwei Bremer Geiseln in einem Auto. Am Mittag des 18. August griff ein Spezialeinsatzkommando auf der Autobahn bei Bad Honnef zu. Eine 18-Jährige starb durch eine Kugel aus Rösners Waffe.

54 Stunden hielt das Geiseldrama die Nation in Atem. Die Situation weckte große Sensationsgier. Es war ein Fall von Polizei- und Medienversagen: Geiselnehmer wurden zu Medienstars und Millionen Menschen haben daran Anteil genommen.

Wie haben sich die Medien damals verhalten?

Medienmacher wurden zu Mitgestaltern des Kriminalgeschehens. Ganz Deutschland schaute zu, wie ein Geiselnehmer mit einer Waffe vor der Live-Kamera steht und wie Verbrecher während ihrer Tat den Menschen vor den Bildschirmen ihre Sicht der Dinge erklären. Beispielhaft für das Verhalten der Medien damals war das des Journalisten Udo Röbel, der später Chefredakteur der Bild-Zeitung wurde: Er war für den Kölner Express als Reporter in der Kölner Fußgängerzone vor Ort. Das Auto der Geiselnehmer war umringt von Schaulustigen und Reportern. Röbel stieg in das Fluchtauto ein, gab die journalistische Distanz komplett auf und wurde quasi Beteiligter. Die Selbstkontrolle unter den Medien funktionierte nicht mehr. Alle mischten in diesem Wettbewerb mit, angefangen von privaten Rundfunksendern, die als Erste Interviews mit den Geiselnehmern ausstrahlten, bis hin zu öffentlich-rechtlichen Sendern und renommierten Tageszeitungen, die sich mitten in das Geschehen hineinbegaben.

Wie ist das Verhalten der Medien zu bewerten?

Es ist ein klarer Fall: Die Medien machten, wie auch die Polizei, schlimme Fehler. Journalisten überschritten Grenzen, die sie nicht hätten überschreiten dürfen. Sie waren nicht nur Berichterstatter, Begleiter und Deuter des Geschehens, sondern mischten sich aktiv in das Geschehen ein. Der Journalist Röbel sagte danach, er habe den Geiseln helfen wollen. In der öffentlichen Diskussion fühlte er sich missverstanden, weil man ihm eine Mitschuld gab und ihn wegen Beihilfe belangen wollte. Heute denkt er darüber sehr kritisch und sagt, dass er das nicht hätte tun dürfen.

Inwiefern hat das Drama von Gladbeck den deutschen Journalismus geprägt?

Die anschließende sehr selbstkritische Diskussion in den Medien führte dazu, dass der Pressekodex in Punkt elf geändert wurde: Heute heißt es dort eindeutig, dass Medienvertreter wärend eines Tatgeschehens keine Interviews mit den Tätern führen dürfen und sich nicht in die Verhandlungen mit Geiselnehmern einzumischen haben. „Sie [die Presse; Anm. d. Red.] berichtet über diese Vorgänge unabhängig und authentisch, lässt sich aber dabei nicht zum Werkzeug von Verbrechern machen. Sie unternimmt keine eigenmächtigen Vermittlungsversuche zwischen Verbrechern und Polizei.“

Wie wurde das Verhalten der Medien aufgearbeitet?

Obwohl der Pressekodex geändert wurde, ist das Verhalten der Journalisten nicht genügend aufgearbeitet worden. Es wird oft so getan, als seien die Medien damals noch nicht so „reif“ gewesen. Dass eine Aufarbeitung weiter nötig ist, zeigt folgendes Beispiel: Während der Flüchtlingskrise 2015 haben alle Nachrichtenmedien groß darüber berichtet. Der renommierte Medienforscher Michael Haller kritisiert heute diese Berichterstattung. Auch hier haben Journalisten zu wenig Distanz zum Geschehen hergestellt. Es wurde sehr stark über Willkommenskultur berichtet, problematische Aspekte und negative Entwicklungen jedoch kaum hinterfragt.

Wo ist heute ein Umdenken nötig?

Die Medienmacher haben zwar daraus gelernt. Der Pressekodex wurde geändert und damit Verhaltensgrundlagen für Medienschaffende bei Geiselnahmen definiert. Das ist ein Fortschritt. Aber Journalisten müssen weiterhin selbstkritisch bleiben. Gerade wenn es darum geht, Nähe zum Geschehen herzustellen, gleichzeitig aber distanziert zu bleiben. Journalisten dürfen sich nicht selbst zum Beteiligten eines Geschehens machen. Die journalistischen Medien müssen weiterhin lernen, ihre Rolle richtig wahrzunehmen: kritisch begleiten, Distanz wahren und auch da, wo es um eine vermeintlich gute Sache geht, Abstand halten. Aufmerksamkeit, Selbstkontrolle und Selbstkritik sind weiterhin erforderlich.

Von Christoph Irion und Swanhild Zacharias

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