Wie man bei Kindern die Liebe zu Büchern weckt

Mit ihrem preisgekrönten Konzept begeistern die Pädagoginnen Silke Vöbel-Kempke und Silke Hertstein Kinder fürs Lesen. Was Christen davon lernen können.
Von Martina Blatt
Silke Herstein

Gebannt lauschen die Kinder Silke Hersteins Stimme. Die Erzieherin liest ihnen aus dem Mitmachbuch „Schüttel den Apfelbaum“ vor, die Kleinen kichern, strahlen einander an. Eins der Mädchen schnappt sich das Buch und schüttel es kräftig. Denn: Das Bäumchen im Buch bittet die kleinen Leser: „Kannst du das Buch schütteln, damit ein paar Äpfel herunterfallen?”, weil ihm die ganzen Äpfel viel zu schwer werden. Geschafft! Das Bäumchen ist nicht mehr traurig. Nun darf das nächste Kind ran und der Henne im Buch helfen. Ihr sind nämlich die Eier aus dem Nest gerollt. Vorsichtig nimmt das andere Mädchen das Buch und dreht es behutsam nach rechts. Sehr schön, nun hat die Henne ihre Eier wieder. Jedes Kind möchte mitmachen. Die Begeisterung am Vorgelesen-Bekommen beherrscht den Raum, eine kleine Bibliothek mit gemütlichem roten Sofa in der Kindertagesstätte „Waldgeister“.

Der Kindergarten im hessischen Hüttenberg-Volpertshausen hat mit seinem Sprach- und Leseprogramm „Sieben auf einen Streich“ den diesjährigen Deutschen Lesepreis gewonnen. Die Pädagoginnen Silke Vöbel-Kempke und Silke Hertstein haben das Lesekonzept entwickelt, das etwa einen Lesekoffer mit Mitmach-Büchern und Lesewanderungen beinhaltet. „Unser Lesekonzept ist ganz einfach und mit wenigen Mitteln umsetzbar. Das war uns wichtig“, sagt Hertstein. Deswegen ließen sich viele Ideen daraus unkompliziert in Familien und christlichen Gemeinden umsetzen, erklärt die Pädagogin, die selbst gläubig ist.

Hertstein erklärt: „Ich persönlich finde es zum einen wichtig, dass man Kinder an christliche Themen zum Beispiel mit Kinderbibeln heranführt. Zum anderen finde ich es wertvoll, dass wir Kinder an ein liebesvolles Miteinander und gute zwischenmenschliche Beziehungen heranführen, die mit dem Christlichen sehr eng verbunden sind, wovon aber nicht in allen Büchern zu lesen ist.“

Dass Vorlesen einer der wichtigsten Impulse in der frühen Kindheit ist, betont der Vorlesemonitor 2023 der Stiftung Lesen. Denn es fördert zum einen die sprachliche Entwicklung der Kinder und zum anderen ihren Zugang zum späteren eigenen Lesen und den schulischen Erfolg in allen Fächern. Doch die Zahlen sind alarmierend: Mehr als einem Drittel der Ein- bis Achtjährigen wird zu Hause selten oder nie vorgelesen. Das gemeinsame Lesen ist zudem förderlich für die Entwicklung der Persönlichkeit und der sozio-emotionalen Kompetenzen von Kindern, heißt es weiter in der Erhebung. Deswegen sollten Eltern und Großeltern immer wieder zum Kinderbuch greifen. Christliche Familien haben mit dem Vorlesen eine ganz alltagsnahe Möglichkeit, den Kindern ihren Glauben zu vermitteln. Möchten die Eltern ihren Kindern Jesus nahe bringen, können sie zu Kinderbüchern greifen, die von seinem Leben berichten.

Im Rahmen des Konzepts machen die Erzieherinnen in den Kita-Räumen, auf dem Außengelände und bei den wöchentlichen Wandertagen Vorleseangebote. Die Kinder sind dabei nicht nur stille Zuhörer, sondern dürfen mitmachen. Geht es in einem Buch im Morgenkreis um Burgen und Ritter, erhalten die Kleinen anschließend im Turnraum verschiedene Utensilien, bauen eine Ritterburg und spielen die Szenen nach. In einem anderen Buch ist die Hauptfigur eine Kuh. Nach dem Lesen malen die Kinder das Tier nach und alle Bilder landen in der „Galerie der kleinen Künstler“ der Kita. Während dieser und weiterer Rituale dürfen die Mädchen und Jungen selbst entscheiden, wo und wie sie zum Buch greifen. Anschließend gibt es immer wieder die Möglichkeit zum Basteln, Musizieren, Malen oder Kneten. Eine ganzheitliche Buchbetrachtung quasi.

Lesekoffer für interaktives Mitlesen

In der kleinen Inhouse-Bibliothek können die Mädchen und Jungen während der Betreuungszeit in den Regalen stöbern und sich mit ihrer eigenen Karteikarte Bücher ausleihen. So bekommen sie schon früh Neugier auf die Bücherei.

„Der Lesekoffer wird wie ein Schatz gehütet“, erklärt Vöbel-Kempke. Die Regel ist: Nur sie dürfen den Deckel öffnen, darunter befinden sich ausschließlich Reimbücher und Mitmachbücher. Bei den Mitmachbüchern müssen die Kinder im Buch zum Beispiel den Startknopf drücken, damit der Astronaut auf der nächsten Buchseite ins Weltall starten kann. Und so wird aus dem Vorlesen ein interaktives Mitlesen, was den Kindern kleine Erfolgserlebnisse schenkt. Ein Kind entscheidet, welches Buch gelesen wird und welches Kind das nächste Buch auswählen darf.

Der Lesekoffer ist eine praktische Idee für zu Hause in der Familie, etwa für ein Leseritual am Sonntagmorgen, am Nachmittag oder vor dem Schlafengehen, empfiehlt Hertstein. Ein Leseköfferchen könnte auch bei den Großeltern stehen. Darin finden sich ein paar Bücher, die die Kinder gern mögen und sie und ihre Geschwister dürfen sich ihre Reime-Geschichte oder Gute-Nacht-Mitmachgeschichte selbst aussuchen. „Reimwörter und die Betonung von Silben ist für später in der Schule wichtig. Mit diesen Büchern lernen die Kinder das ganz spielerisch nebenbei und im Spaß. Die kleinen Kinder sind interessiert an den Bildern und Reimen, die größeren Kinder sind schon interessiert an Sachbüchern.“

Gewinnerinnen des Deutschen Lesepreis 2024 in der Kategorie „Herausragende Sprach- und Leseförderung in Kitas“: die Pädagoginnen Silke Hertstein (l.) und Silke Vöbel-Kempke. Foto: Stiftung Lesen
Gewinnerinnen des Deutschen Lesepreis 2024 in der Kategorie „Herausragende Sprach- und Leseförderung in Kitas“: die Pädagoginnen Silke Hertstein (l.) und Silke Vöbel-Kempke.


Kollegin Kempke-Vöbel ergänzt: „Das einfache Vorlesen und Zuhören von längeren Texten war früher einfacher. Heute möchten die Kinder mitreden, sich beteiligen und agieren. Bilderbetrachtungen mit kurzen Texten und vor allem Reimen sind in.“ Das liege vielleicht auch daran, dass die Aufmerksamkeitsspanne, die Konzentration und Ausdauer der Kinder abgenommen haben. Hier spielten Medien wie Fernsehen, Computerspiele und Smartphones eine große Rolle. „Es gibt sicher Eltern, die ihre Aufgabe als Vorleser und Vorleserinnen nicht bei sich selbst, sondern bei Erziehern, Lehrern und auch Großeltern sehen. Da das Kind seine Eltern allerdings als größtes Vorbild annimmt, ist es nicht leicht, auf diesem Weg die Liebe zum Buch im Kind zu wecken.“

Vöbel-Kempke sagt: „Mit den Kindern kann ich als Mama, Papa, Oma oder Opa einen Ausflug in die Bücherei machen und sie auffordern: Wir füllen wieder unser Lesekörbchen oder wir lesen zwei, drei Bücher vor Ort.” Die Pädagogin sieht, dass neue Bücher leider oft teuer sind und sich nicht jede Familie Bücher leisten kann. „Aber in der Stadtbücherei kostet es nichts – außer man bringt das Buch nicht zurück. Von daher ist jeder in der Lage, seine Kinder an Bücher heranzuführen. “
In der Kirchengemeinde ist ein „Lesekoffer“ zum Beispiel im Kindergottesdienst denkbar, etwa direkt nach der Begrüßungsrunde. Hertstein empfiehlt zudem: „In den Kindergruppen, die wochentags stattfinden, können die Mitarbeiter auch diesen Mitmachkoffer benutzen und christliche Kinderbücher mit reinnehmen.“

Chillige Lesezeit im Palettenbett und Hängematte

Eine besondere Lesekulisse beherbergt die Kita „Waldgeister“ auf ihrem Außengelände: das Weidenlesehäuschen. Die Weiden bilden einen Kreis, zwischen den Bäumen hängen zwei Hängematten. Mehrere Paletten, mit Polstern und großen Sitzkissen belegt, bilden ein Bett. Um die einzelnen Baumstämme der Weiden herum sind Seile gespannt, an denen wasserfeste Brotdosen befestigt sind. Darin finden sich Pixibücher, die sich die Jungen und Mädchen für eine Auszeit im Weidenlesehäuschen eigenständig schnappen und drinnen blättern und lesen können. „Das Außengelände ist ein lauterer, ein wilderer Bereich. Wir sind viel draußen mit den Kindern. Deswegen möchten wir den Kindern, die das Bedürfnis nach Ruhe haben, auch dort einen Rückzugsort bieten“, sagt Hertstein.

Wenn die acht Weiden auf dem Kitagelände im Frühjahr erblühen, entsteht ein „Weidenlesehäuschen“, in das sich die Kinder mit kleinen Büchern zurückziehen können. Foto: Kita Waldgeister Hüttenberg
Wenn die acht Weiden auf dem Kitagelände im Frühjahr erblühen, entsteht ein „Weidenlesehäuschen“, in das sich die Kinder mit kleinen Büchern zurückziehen können.

„Wenn ich zu Hause einen Garten mit Bäumen habe, kann ich für die Kinder genau so eine Leseecke einrichten.“ In Gemeinden könnten die Mitarbeiter im Außerbereich etwa bei einem Sommerfest oder während einer Aktionswoche an den Bäumen diese Brotdose mit gespendeten Pixibüchern befestigen, empfiehlt Hertstein. Für Gemütlichkeit können dafür auch Hängematten aufgehängt oder Palettenbetten mit Sitzenkissen gebaut werden.

Beim Vorlesekonzept gibt es zudem das Geburtstagskörbchen mit verschiedenen Geburtstagsbüchern. Das Geburtstagskind darf sich sein Lieblingsbuch zum Vorlesen raussuchen. Dies lässt sich auch schön im Kindergottesdienst umsetzen oder bei einer Kindergeburtstagfeier, erklärt Hertstein. Eine Idee ist, vor dem Abendessen noch ein Buch aus diesem Körbchen vorzulesen. Damit lässt sich eine nachhaltige Geburtstagsfamilientradition etablieren.

Lesewanderung: Mit dem Buch zum Ziel

Eine andere Idee des Lesekonzepts ist die Lesewanderung. Dafür nutzt die Kita einen Koffer mit Büchern mit längerer Lesezeit, die nach circa 30 Minuten fertiggelesen sind. Die Kinder packen ihren Wanderrucksack und dann geht es los in den Wald, auf eine Wiese oder in ein Feld – in größeren Städten auf Spielplätze und in Parks. Am Lesewandertag beginnt der Marsch mit Blick nach vorn, denn eine Erzieherin trägt das Buch vor der Gruppe her. Drei bis fünf Lesestationen sind für Kinder im Kita-Alter ausreichend. So laufen sie motiviert von der einen zur nächsten Station. Beim letzten Halt der Wanderung wird das Buch beendet.

Die Lesewanderung eignet sich hervorragend für einen Familienausflug. Die gemeinsame Bewegung und das Lesen bedeuten, sich Zeit füreinander zu nehmen, raus aus dem Alltag zu kommen, die Bindung zu vertiefen. Zudem muss das Ganze nichts kosten, wenn die Familie ein Buch aus ihrem persönlichen Bücherschatz nutzt oder sie das Buch in der Bibliothek oder von Freunden ausgeliehen hat. „Gerade Kinder, die nicht so gern laufen, motiviert man. Denn sie haben ein Ziel. Sie wollen natürlich das Ende der Geschichte erleben“, sagt Vöbel-Kempke. Stehe ein Ritterbuch auf dem Programm, ist dies passend mit einer Wanderung zu einer Burg zu verbinden. Dort können die Kinder die Geschichte gleich nachspielen.
Auch für Kindergruppen in der Gemeinde, die sich wochentags treffen, ist eine kurze Lesewanderung eine geeignete Aktion. Die Gruppe könnte einen Rundweg um die Gemeinde gehen oder der Treffpunkt ist eine Lesewanderung weit entfernt von der Gemeinde, die dann das Ziel ist. „Sonntags im Kindergottesdienst ist eine Lesewanderung eher etwas für eine dynamische Gruppe“, meint Hertstein.

Eine Lesewanderung. Am Ziel lesen die Erzieher das Ende der Geschichte vor, was alle Kinder interessiert. Foto: Kita Waldgeister Hüttenberg
Eine Lesewanderung. Am Ziel lesen die Erzieher das Ende der Geschichte vor, was alle Kinder interessiert.

Wertvolle Inhalte

Allgemein empfehlen die Pädagoginnen, Kinder ab dem Krippen-Alter an das Lesen heranzuführen: „Je früher Kinder mit Büchern Kontakt haben, umso mehr verfestigt sich der Wunsch der Kinder nach Büchern. Wir können diesen Samen ganz früh zu Hause legen. Und selbst wenn die Kinder nachher in der Pubertät eine schlechte Phase haben, in der sie gar nichts mehr mit Büchern anfangen können – es kommt dann wieder zurück.“ Hier gelte es, die richtigen Prioritäten im vollen Alltag zu setzen und auch weg vom Smartphone zu kommen. Ein paar Minuten Zeit, um ein Buch vorzulesen, sollte jeder finden, wie etwa beim Ritual vorm Einschlafen. Hertstein habe in ihrem Familienalltag etabliert, als ihre Kinder noch kleiner waren, dass es nach dem Mittagsessen eine halbe Stunde Pause gibt. „Ich als Mama habe dann zum Buch gegriffen. So war ich Vorbild. Meine Kinder haben gesehen: Mama nimmt sich Zeit für sich und fürs Lesen.”

Hertstein betont: „Wir bleiben als Eltern die Chefs in der Beziehung zu den Kindern. Das heißt, wir geben den Kindern den Rahmen vor, in dem sie ein Handy oder einen Computer benutzen. Wenn man früh anfängt, den kleinen Kindern klare Regeln zu setzen, ist es in der Pubertät nachher einfacher, weil die Kinder es von klein auf kennen, dass es diesen Rahmen in allen Bereichen gibt – auch bei der Technik. Kinder brauchen Grenzen.“ Und weiter: „Das ist nicht wertend gemeint: Der Tag hat nur 24 Stunden und in der Zeit, in der ich mir etwas auf dem Handy anschaue, kann ich nicht in ein Buch schauen.“ Die Pädagogin hat bei sich selbst gemerkt: Die Inhalte, die sie in einem echten Buch lese, bleiben ihr besser und länger im Gedächtnis, als die, die sie digital gelesen hat.

Die Erzieherinnen erleben die Erfolge ihres Programms im direkten Umgang mit den Kindern. „Immer wieder dürfen wir zuschauen, wie fünf- und sechsjährige Kinder den Zwei- und Dreijährigen mit ihren eigenen fantastischen Worten und in ihrer eigenen Sprache Bücher gewissermaßen vorlesen“, erklärt Vöbel-Kempke. „In diesen Momenten wissen wir, dass wir unser Ziel bereits bei vielen Kindern erreicht haben: das Interesse und die Begeisterung an und mit Büchern!“

Dieser Artikel erschien zuerst in Ausgabe 03/2024 von PRO – das christliche Medienmagazin. Sie können das Heft kostenlos hier bestellen.

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