Rezension

Erschüttertes Alltagsleben im Nahostkonflikt

Geheimnisse, innere Kämpfe, Traumata – die es ohne den israelisch-palästinensischen Konflikt nicht gegeben hätte: „Mein Land, mein Leben“ ist ein Blick in die Gedanken- und Gefühlswelt der Israelis, die man in den Nachrichten oft vermisst.
Von PRO

Tel Aviv, 2015. Die Konflikte eskalieren. Schon seit Jahrzenten brodelt es zwischen den Palästinensern und Israelis. Nun kommt es auf offener Straße und in Bussen zu Messerattacken. Aktionen von beiden Seiten lösen Unruhen in ganz Israel aus. Israelis werden von Arabern attackiert oder erstochen – als Gegenreaktion zerstören israelische Soldaten die Häuser der Attentäter. Mittendrin: Yahav, Wael und Nienke. Die drei Protagonisten geben Einblicke hinter die Kulissen. 

Journalisten und Historiker betrachten den israelisch-palästinensischen Konflikt vor allem aus politischer Sicht. Eline Rosenhart macht es mit ihrem Roman „Mein Land, mein Leben“ anders. Auch sie beleuchtet die Attentate in Tel Aviv. Aber sie widmet sich einzelnen Menschen, erzählt ihr Leben, ihre Geschichten, ihr Leid. Die Autorin lebte achteinhalb Jahre in Israel und baut wahre Begebenheiten in das fiktionale Buch ein – das macht es umso eindrücklicher.

Ein Land – so unterschiedliche Lebenswelten 

Yahav, Wael und Nienke leben alle in demselben Land, doch ihr Leben könnte unterschiedlicher nicht sein. Das Alltagsleben der jungen Erwachsenen ist alles andere als normal. Der Leser taucht in verschiedene Welten ein – die Protagonisten gehen wegen ihrer Meinungen zur Politik und Religion unterschiedlich mit den Konflikten um. Jeder von ihnen kämpft mit verschiedenen Entscheidungen. Dadurch stehen Beziehungen auf dem Spiel und Familien laufen Gefahr, völlig zu zerbrechen. 

Yahav war Soldatin in der israelischen Armee. Sie stammt aus einer jüdischen Familie, jedoch nimmt ihr Interesse an Spiritualität schnell ab. Sie sieht sich nicht in der Lage, Beziehungen zu führen – bei ihr dreht sich alles um die Politik. Darin möchte sie ihren Lebenssinn finden. Nach dem Austritt aus der Armee beginnt sie, englische Literatur und Politikwissenschaft zu studieren. 

Nienke ist das komplette Gegenteil. Sie ist Niederländerin und reist nach Israel, um dort als Freiwillige in einem Pflegeheim zu arbeiten. Durch ihren christlichen Glauben beschäftigte sie sich intensiv mit dem Alten Testament – ihrer Liebe zu Israel, dem Volk Gottes, wuchs immer mehr. Die Beziehung zu Yahavs Bruder Itai stellt ihr gesamtes Leben auf den Kopf. Sie ist keine Jüdin, Itais jüdische Familie übt Druck auf sie aus und er vertritt Ansichten, die Nienke durch ihren Glauben nicht einfach hinnehmen kann.

Zuletzt nimmt Wael den Leser in eine Welt voller Schmerzen und Gefahren mit. Ohne Vorwarnung ändert sich sein Leben mit einem Schlag. Sein Vater hat einen Herzanfall – als Moslem und Palästinenser gehört von nun an illegales Arbeiten in Tel Aviv zu seinem Alltag. Sein Studium fertigzustellen, kann er jetzt vergessen. Außerdem darf er seine Verlobte erst heiraten, wenn er ein eigenes Haus gebaut hat.

Gemeinsamkeiten gibt es doch

Der erste Blick täuscht – immer mehr werden einige Gemeinsamkeiten zwischen den drei ungleichen Figuren deutlich. Vor allem ist es ein Trauma, das jeder von ihnen zu verarbeiten vermag. Es beeinflusst ihr ganzes Denken und Handeln. Yahav kann ihre Vergangenheit im Militär nicht loslassen, sie muss „lernen, mit schmutzigen Füßen weiterzulaufen.“ Der Leser weiß bis kurz vor dem Ende nicht, worum es bei ihrem traumatischen Erlebnis geht. Doch eins wird klar: Sie hat einen großen Fehler gemacht.

Von nun an beschäftigt sie sich auf Social-Media-Plattformen und Studentenaustauschgruppen mit den politischen Geschehnissen. Frieden – das ist ihr Ziel. Plötzlich wird sie wieder in das Kriegsereignis zurückversetzt – sie ist nicht mehr in der Lage normal zu leben. Und das nur, weil sie Wael trifft.

Foto: SCM
Eline Rosenhart: „Mein Land, mein Leben“, SCM, 368 Seiten, 23 Euro

Zumindest für eine kurze Zeit gelingt es Yahav ihre Vergangenheit zu verdrängen – Wael wird täglich mit seiner konfrontiert. Immer wieder versucht Wael ein Trauma aus seinem Bewusstsein zu entfernen – „aber von innen griffen die dunklen Flecken auf seinen Körper und seinen Geist über.“ Sein Bruder wurde ermordet – in dieser dunklen Stunde war Wael dabei. Die Bilder der blutenden Leiche bekommt er nicht mehr aus dem Kopf. Wael kann seine Schmerzen mit niemandem teilen und flieht in das Schreiben von Gedichten. Dazu ist er täglich Gefahren ausgesetzt, die das verbotene Arbeiten mit sich bringen. Wird er erwischt, ist alles vorbei – für seine Familie und seine Verlobte. Sein Ziel ist Überleben. 

Nienkes größter Wunsch ist es, dazuzugehören und in das Land zu passen. Ihre vermeintlich geheilte Essstörung holt sie jedoch immer wieder ein. Das Gefühl, nicht gut genug zu sein, bringt sie zum Verzweifeln – ihren christlichen Glauben schiebt sie dabei immer mehr zur Seite. Durch Begegnungen mit Yahav sieht sie außerdem, wie Menschen nach dem Krieg nicht mehr zu einem normalen Leben fähig sind. Und auf einmal wird sie selbst ein Teil davon – sie gerät mitten in ein Attentat. Im Krieg zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort zu sein, wird einen lebenslänglich verfolgen. 

Blick auf das Christentum

Nienke lässt den Leser in die Kultur der jüdischen Feste eintauchen – je länger sie in Israel lebt, desto stärker rückt ihr Fokus auf das Judentum. Auch Wael beginnt, seinen muslimischen Glauben zu hinterfragen – sein Fundament gerät ins Wackeln. Bei Wael und Nienke kommen durch ihre Erlebnisse persönliche Glaubenszweifel hoch. Es werden gute Fragen in Bezug auf den christlichen Glauben gestellt. Es folgen nicht immer aufschlussreiche Antworten – trotzdem zeigt der Roman, wie Gott das Leid nutzen kann, um Menschen zu begegnen. 

Die israelische Gesellschaft wird in ihren vielseitigen Facetten beschrieben. Rosenhart nutzt die unterschiedlichen Standpunkte, um aufzuzeigen, dass Schwarz-Weiß-Denken im Krieg schwierig sein kann. Da persönliche Lebensgeschichten in Konfliktgeschehen sehr häufig untergehen, richtet sie den Blick ganz darauf – mit ihrem Werk hat sie das definitiv geschafft. 

Von: Sophia Boldt

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